Bericht eines Überlebenden des Massakers von Cizîr

Cizre-FerhatAslan(41)Bakur/Nordkurdistan – BestaNûçe hat den Bericht eines Augenzeugen des Massakers von Cizîr (Cizre) veröffentlicht. BestaNûçe betont, dass aus Sicherheitsgründen der Name des Zeugen verändert wurde. Im Bericht wird er nun Serhildan genannt. Mit der Veröffentlichung des Interviews wird er die Stadt verlassen. Serhildan war vor Verhängung der Ausgangssperre als Besucher nach Cizîr gekommen. Als die bewaffneten Kräfte des Staates in den Stadtteil Cudi eindrangen, haben er und sechs weitere Freunde sich in den Stadtteil Sur von Cizîr zurückgezogen. Sie waren zum weiter oben liegendem Cafer Sadık Hügel gegangen. Die Umgebung war in dieser Zeit ununterbrochen aus allen Richtungen unter Beschuss mit Granaten gewesen. Er erklärte: „Wir wurden pausenlos aus der Luft von einer Heron-Drohne beobachtet. Sie wussten, dass wir Zivilisten waren. Trotzdem wurden wir bei jeder Straße die wir passierten und jedem Haus in das wir gingen mit Granaten beschossen. Zwischen Granatsplittern, Staub und Rauch suchten wir uns unseren Weg.“

Da die bewaffneten Kräfte des Staates die Straße Kobanê blockierten, konnten sie nicht ins Stadtzentrum, sondern blieben tagelang in einem Haus unterhalb des Cafer Sadık genannten Hügel. Dort warteten sie bis sich die Kräfte des Staates näherten. Serhildan erzählte: „Eines Morgens erwachten wir vom Lärm des Militärs. Sie versuchten in das Haus einzudringen indem sie mit Äxten die Wände des Hauses durchschlugen. Wir haben sofort alles zusammen gerafft und versuchten das Haus zu verlassen. Bis wir alles draußen kontrollieren konnten hatten die Soldaten es geschafft ein Loch in eine Wand zu schlagen. Als wir daraufhin durch die Hintertür das Haus verlassen wollten, warfen die Soldaten Handgranaten durch das Loch.“ Daraufhin habe es eine starke Explosion gegeben. Durch den aufgewirbelten Staub der Explosion haben sie das Haus verlassen können. Als sie von dort weg rannten, seien sie von einem Militärhubschrauber des Typs Kobra, der den Eingang der Straße kontrollierte, beschossen worden. „Der Kobra bemerkte uns nicht sofort. Als er dann das Feuer eröffnete, stürzte einer unserer Freunde zu Boden, ein anderer wurde verletzt. Gemeinsam mit dem verletzten Freund flüchteten wir in ein Haus. Kaum waren wir in dem Haus, da näherte sich der Kobra. Wir verschlossen die Tür und gerieten in Panik. Genau in dem Moment hörten wir den Schrei unseres Freundes der auf der Straße gestürzt war und eine Salve aus dem Hubschrauber. Da wussten wir, sie hatten ihn ermordet.“

Erst hätten sie angenommen, dass sie jetzt in dem Haus festsäßen und nicht nicht mehr heraus könnten. Einer habe dann eine Leiter in dem Haus gefunden. „Mit unserem am Arm verletzten Freund sind wir dann über die Leiter in ein anderes Haus gestiegen. Die Tür des Hauses ging auf eine andere Straße. Ohne auch nur einmal zu pausieren rannten wir raus – und dann immer weiter. Als wir so liefen hörten wir eine starke Explosion. Sie kam von dem Haus, dass wir gerade verlassen hatten. Wir liefen 3 bis 5 Straßen weiter, dort stießen wir auf Angehörige der zivilen Selbstverteidigungseinheiten YPS. Sie haben uns sofort in den Keller eines Hauses gebracht.“

Eine Woche blieben er und seine Freunde in diesem Keller. Sie versuchten mit dem wenigen was da war die Verletzten zu versorgen. „Unser Freund hat einen Durchschuss am Arm erlitten. Wir haben die Watte aus Kopfkissen, die es im Keller gab, gezogen und mit Hilfe eines Pullovers den Arm unseres Freundes versorgt“, so Serhildan. Er erzählte, dass sie im Keller auch Brot gebacken haben. „Obwohl ich nicht wusste wie man das macht, habe ich dort Brot gebacken. Im Haus selber haben wir Käse, Tahin (Sesammus), Oliven und ähnliches gefunden. Tagelang haben wir so zu überstehen versucht. Im Garten des Hauses gab es einen Brunnen. Von dort holten wir das Wasser das wir benötigten.“

Als das Brot zu Ende ging bat ich die YPS um Erlaubnis Brot holen zu dürfen. „Alle waren sehr hungrig. Um Brot zu finden verließ ich den Keller. Genau in dem Moment als ich mit dem Brot, dass ich gefunden hatte, wieder zurück in den Keller wollte, wurde ich beschossen und am Bein verletzt. Zuerst bemerkte ich gar nicht das ich getroffen worden bin, erst als ich ins Straucheln geriet erfasste ich was passiert war.“

Damit war Serhildan nun einer der Verletzten. Er berichtet, das 1 -2 Tage später einige Mitglieder der YPS zu ihnen stießen. „Die Mitglieder der YPS berichteten uns, dass die Angriffe des Staates sehr stark seien und sie nur noch über sehr wenig Munition verfügen würden. Sie warnten uns, sagten sie würden Aktionen durchführen bei denen sie sich selbst Opfern würden, deshalb wäre die Straße hier jetzt nicht mehr sicher. Wir sollten vorsichtshalber ein paar Straßen tiefer gehen.“

Eine Nacht lang blieb Serhildan dann in einem weiterem Haus in einer anderen Straße. Danach versuchten sie erneut vom Inneren von Sur 2-3 Straßen tiefer Richtung Kobanê Straße zu gelangen. Nachdem sie schon ein Stück des Weges zurückgelegt hatten, stießen sie auf eine Gruppe der YPS. „Sie fragten uns nach ihren Freunden dort und wir erzählten es ihnen. Sie brachten uns zu einem Keller. Der Keller, zu dem sie uns brachten, wird nun in der Öffentlichkeit als der dritte Keller bekannt. Es gab dort mehr als 10 Verletzte und mit der Zeit wurden weitere gebracht. Die Freunde, denen es gut ging, kümmerten sich um uns – die Verletzten.“

Nachdem sie eine Woche in dem Keller zugebracht hatten kamen die bewaffneten Kräfte des Staates bis an die Straße, wo sich der Keller befand. Serhildan berichtete: „Der Staat nahm das Gebäude, in dem sich der Keller in dem wir waren, und die Gebäude drum herum unter starken Granatbeschuss. Vor allem in den Morgenstunden war der Beschuss immer sehr heftig. Alle Gebäude um den Keller herum sind zerstört worden.“

Serhildan erzählte über das Leben im Keller: „Einige Verletzte verloren wegen der fehlenden Versorgung ihr Leben. Wir waren dort mit denen, die ihr Leben verloren hatten, zusammen. Der Keller, in dem wir uns befanden, war sehr groß. Diejenigen, die noch Unverletzt waren, fanden über den Tag etwas zu essen für uns. Es gab Tage, an denen wir uns mit einem einzelnen Keks aushelfen mussten. Wasser war sehr knapp. In dem Keller gab es nur unsere Betten. Weil das Gebäude noch in Bau war gab es noch einige Bretter und ähnliches.“

Serhildan berichtete, dass durch den Granatenbeschuss Löcher in die Decke des Kellers gerissen worden sind: „Sehr viel später hat der Staat mit schweren Maschinengewehren, die auf Panzern montiert waren, durch diese Löcher geschossen. Es war sehr starker Beschuss. Durch diesen schweren Beschuss sind die meisten der Verletzten ermordet worden. Fortwährend hörte man die Schreie und das Stöhnen der Verletzten.“

Als keine Salven mehr aus den Maschinengewehren kamen und die Schreie der Verletzten verstummten, habe Serhildan zu den Verletzten hinüber gesehen: „In der Hand zweier Mitglieder der YPS waren Revolver, sie lagen im Sterben. In dem Moment erfasste ich, dass die beiden von der YPS nicht darauf gewartet haben bis der Staat sie ermordet, sondern die letzte Kugel auf sich selbst abgefeuert hatten.“

Eine längere Zeit verging bis der Lärm von gepanzerten Wagen zu vernehmen war. „ Ich hörte das Geräusch von Schritten die sich näherten. Dann habe ich bemerkt, dass sie durch die Löcher in der Decke der Keller etwas hinein geworfen haben. Eines dieser Dinger, die sie hinein geworfen hatten, fiel ganz in meine Nähe. Es waren mit Benzin gefüllte Flaschen. Nachdem sie viele mit Benzin gefüllte Plastikflaschen herein geworfen hatten, warfen sie etwas Entzündliches hinterher, so dass der Keller in Brand geriet“, so Serhildan.

Wie Serhildan berichtete, seien die Keller sehr groß gewesen. „Damit man uns aus den gepanzerten Fahrzeugen nicht sehen konnte, hatten wir einige der Bauhölzer übereinander gestapelt. Durch das Feuer sind einige Bauhölzer in Brand geraten. In dem Moment sind zwei, die uns zur Seite standen und die noch unverletzt waren, nach oben gegangen. Als Rauch entstand begannen die Soldaten aus den gepanzerten Fahrzeugen heraus den Mehter-Marsch zu spielen.“

Serhildan berichtete, dass er, verletzt wie er war, versuchte den Brand zu löschen. „Ich entfernte die Bauhölzer aus der Nähe der Stelle wo es brannte. Ich entfernte auch die Leichname der vom Brand Ermordeten. Ich bekam den Brand unter Kontrolle, aber es gelang mir nicht, ihn ganz zu löschen. Ich schaffte, dass der Rauch aus dem Raum abzog. Wenn der Brand ganz verlöscht worden wäre, wären die Soldaten vielleicht darauf gekommen, dass hier drinnen noch welche am Leben sein könnten.“

Nach dem Brand haben die Soldaten viele Gasgranaten in den Keller geworfen. „Wir mussten viele Stunden im Gas ausharren. Einige Verletzte, die den heftigen Beschuss überlebt hatten, verloren jetzt durch das Gas ihr Leben. Die Soldaten erschossen einen der beiden Freunde, die nach oben gegangen waren, um den anderen Bescheid zu sagen.“

Serhildan erzählt, dass er zu nächtlicher Stunde den Keller verlassen habe und zusammen mit einem Unverletzten durch einen zuvor geöffneten Durchgang in ein anderes Haus, das sich direkt am Gebäude befand, gewechselt sei. „Als ich das Haus betrat, waren da so um die 25 Menschen. Sie gingen hinunter und holten einige Verletzte. Später erzählten mir die Freunde dort, dass sie an einem TV-(Programm) teilgenommen und die Situation geschildert hätten. Sie sagten, dass die Abgeordneten der HDP sich eingeschaltet hätten, es kämen Rettungswagen, die uns abholen würden. Ja, einige der Freunde dort haben zu der Stunde sogar ihre Familien angerufen. Es gab auch einige, die so von ihrer Familie Abschied genommen haben.“

Serhildan berichtete, dass sie bis in die Nacht hinein miteinander diskutiert hätten, wie die weiteren Entwicklungen sein würden: „Eine Freundin, später habe ich erfahren das ihr Name Derya war, hat erzählt, dass sie am Morgen ihre Familie, die Presse und Verantwortliche der HDP angerufen habe. Ja, dass sogar das Geschehene live in verschiedenen Kanälen von Fernsehsendern und auch in der Presse berichtet wurde. Sie und ein weiterer Freund haben noch einmal eine Verbindung zum TV gehabt. Danach hat dann jeder gewusst, zu was der Staat, der ein Massaker verübt, in der Lage ist. Die meisten da drinnen waren Studenten und Zivilisten. Deshalb haben wir gemeinsam den Beschluss gefasst, dass wenn am Morgen der Rettungswagen kommt, wir zu ihm gehen werden.“

Sie sagten sogar, dass der Rettungswagen noch am Abend käme, erinnert sich Serhildan. „Sie sagten, am Abend um 19.00 Uhr kommt der Rettungswagen, aber sie haben keinen gesandt. Als er am Abend nicht kam sagten sie, dass er am nächsten Morgen um 9.00 Uhr kommt.“

„Sie sagten uns, dass Freiwillige aus dem Gesundheitsbereich sich eingeschaltet hätten,“ erinnert sich Serhildan „Sie erklärten uns, am Morgen kommt der Rettungswagen und ihr geht ihm entgegen. Ohnehin war das ganze Haus von Soldaten umstellt worden. Als der Morgen begann sammelten wir uns und begannen damit herauszugehen. Wir stiegen vom zweiten Stock in den ersten, durch die Eingangstür dort wendeten wir uns Richtung Straße. Um den ersten Stock herum waren Löcher geöffnet worden. Durch diese Löcher sah man uns von den gepanzerten Fahrzeugen aus. Wir ließen jeweils einen kleinen Abstand zueinander und verließen das Haus. Ich und einige andere Verletzte warteten im ersten Stock. Nachdem die Freunde zum Rettungswagen gegangen waren sollten ich und die anderen Verletzten geholt werden. Die Freunde gingen laut rufend voran. Alle riefen den Soldaten nacheinander zu: „Nicht schießen“, „Wir sind Zivilisten“, „Hier sind Verletzte“, „Keiner hat eine Waffe“. Ohnehin waren die gepanzerten Fahrzeuge der Soldaten sehr nah. Dann wurde die Stille des Tages von einer sehr langen Salve zerrissen. Sie hatten das Feuer auf die, die auf die Straße wollten und an der Tür waren, eröffnet. Wir bemerkten, dass Bewegung unter die Soldaten gekommen war. Wir erkannten, dass sie ins Haus kommen werden. Zu der Zeit befand ich mich im ersten Stock.

Um in den zweiten Stock zu gelangen, benutzte ich den Lüftungsschacht des Bades. Zwei weitere Freunde folgten mir. Wir versteckten uns unter Steppdecken. Der Raum war sehr unordentlich. Ein Freund versteckte sich in einer Truhe. Kaum dass wir uns versteckt konnten, hörten wir die Schritte der Soldaten.“

Sie konnten die Meldungen aus den Funkgeräten der Soldaten hören. „Sie haben alle Verletzten ermordet. Danach haben sie in die Räume geschaut. In jeden Raum, den sie betreten wollen, warfen sie eine Handgranate, anschließend feuerten sie noch eine Salve hinterher. Wir hatten uns in einem Raum im zweiten Stock versteckt. Die Soldaten betraten den Raum, schossen um sich. Wir hatten Glück, sie bemerkten uns nicht, uns traf auch keine Kugel. Sie blieben nur ganz kurz und gingen dann.“ Als der unverletzte Freund an seiner Seite – nachdem kein Laut mehr aus der Truhe gekommen war – nachsehen wollte und die Truhe öffnete, sahen sie, dass ihr Freund ermordet worden war.

Drei Tage nachdem die Soldaten das Haus verlassen hätten, kam ein Bagger zu dem Gebäude. Der Bagger kam in Begleitung der Polizei und hat die Häuser um das Gebäude herum abgerissen. Der Bagger hat dort 1 ein oder 2 Tage lang gearbeitet. Als Serhildan irgendwann aufwachte, kam der Bagger mit der Schaufel voran auf das Haus zu.

Aber der Bagger riss das Haus in dem sie waren nicht ab. „In dem Haus herrschte ein heilloses Durcheinander. In einem Eisschrank fanden wir gefrorenes Brot. Zwischen den verstreuten Sachen fanden wir etwas Tahin. Wegen des Tahin, das wir aßen, wurden wir dauernd durstig. Also aßen wir nichts mehr davon. Aus den Leitungen kam kein Wasser. Wir öffneten ganz vorsichtig zwei Wasserboiler im Bad und holten fast zwei Liter Wasser aus ihnen. Tage lang ernährten wir uns von diesem Wasser und diesem Brot. Der Reihe nach schoben wir Wache. 2-3 Stunden konnten wir am Tag schlafen. Denn wir mussten ja ständig damit rechnen, das jemand kommt.“

„An einem Morgen hörten wir dann jemanden Kurdisch sprechen. Aber wir wussten natürlich nicht, ob da jemand von uns spricht oder nicht. Wir überlegten, ob das Ausgangssperre wohl aufgehoben worden sei. Der Freund meinte, dass dann das Volk in Massen hierher strömen würde. Als wir am Tag darauf erneut kurdisch Sprechende hörten gingen wir davon aus, dass sich die Menschen wieder bewegen konnten, oder dass das Verbot aufgehoben worden sei. Wir haben mit einer Frau, die auf der Straße war, Kontakt aufgenommen, die hat uns dann über die Situation aufgeklärt. Daraufhin haben wir das Haus verlassen.“

Als Serhildan und sein Freund durch die Tür des Hauses nach draußen kamen, sahen sie die Spuren der Barbarei. Er erklärt: „An der Tür lag die Kleidung der Freunde, die Ermordet worden waren. Allen war die Kleidung ausgezogen worden. Überall war Blut.“ Als sie auf der Straße waren, fuhren gepanzerte Fahrzeuge Patrouille, warfen auch Gasgranaten. Wir sahen sie, aber sie sahen uns nicht.“

BestaNûçe, 09.03.2016, ISKU

Dieser Beitrag wurde in Bakur/Nordkurdistan/Südosttürkei, Menschenrechtsverletzungen, Presse, Türkei, Uncategorized veröffentlicht und getaggt , , . Ein Lesezeichen auf das Permalink. setzen. Sowohl Kommentare als auch Trackbacks sind geschlossen.