Syrien: IS-Offensive mit Unterstützung der Türkei?

gire spiMichael Knapp 29.02.2016 | Im Grenzort Tal Abjad erheben kurdische Bewohner, die Stadtvertretung und russische Beobachter schwere Vorwürfe gegen die Türkei

Am vergangenen Freitag griffen zwischen 23:00 und 0:00 Uhr etwa 200 Dschihadisten des IS die Stadt und Umgebung von Gîre Sipî (kurdischer Name, arabisch: Tall Abyad oder Tal Abjad) an. Die Stadt Gîre Sipî liegt direkt an der türkischen Grenze, die sie von der Kleinstadt Akcakale auf der türkischen Seite trennt. Bei dem Angriff wurden nach Angaben der Nachrichtenagentur DIHA mindestens 15 Zivilpersonen aus einer arabischen Familie durch den IS getötet, die abschließenden Zahlen können jedoch noch weit höher liegen. Nach Angaben der YPG starben dabei mindestens 100 IS Mitglieder.

IS operiert „unter den Augen der türkischen Armee“

Zwei Dinge machen diesen Angriff besonders brisant: einerseits das Inkrafttreten der Waffenruhe in Syrien und andererseits das militärische Vorgehen des IS. Sowohl Vertreter der Stadtverwaltung von Tall Abyad als auch die Volksverteidigungseinheiten YPG betonen, dass der IS-Angriff mit fünf Einheiten erfolgte. Dabei griffen zwei Einheiten aus Richtung Raqqa von Süden her an, während drei große IS-Gruppen von Akcakale[1] in der Türkei aus nach Gîre Sipî vorstießen.

Nach Aussagen des Co-Vorsitzenden des Stadtrates von Tall Abyad, Abu Ciwan, seien die Einheiten des IS „unter den Augen der türkischen Armee“ von Akcakale aus in die Stadt eingedrungen, wo sie eine Autobombe im Zentrum der Stadt zündeten. Unter anderem wurde das Krankenhaus Al Watanî im Zentrum von Gîre Sipî angegriffen. Ciwan wirft der türkischen Regierung vor, dass ein in der Nähe von Akcakale gelegenes Flüchtlingslager vom IS als Ausbildungslager genutzt werde. Seinem Vorwurf zufolge sei ein neues Camp extra für die Ausbildung der Islamisten in Akcakale aufgebaut worden.

Nach Aussagen der YPG sei die Beleuchtung der stark überwachten Grenze zum Zeitpunkt des Angriffs ausgegangen, damit der IS die Grenze überschreiten konnte. Fest steht: Im Süden drang der IS nur bis in die etwa 50km entfernten Ortschaften Silûk und Ayn Isa vor, während die Einheiten, die aus dem Norden kamen, im Stadtzentrum von Gîre Sipî agierten.

Überraschungseffekt und türkische Bombardements

Die Wahrscheinlichkeit, dass es der IS unbemerkt etwa 70km durch selbstverwaltetes Gebiet schafft, um dann zeitgleich in Gîre Sipî einen Angriff im Stadtzentrum zu starten, ist aufgrund der örtlichen Gegebenheiten denkbar gering. Auch dass dem IS zunächst Einheiten der lokalen Sicherheitskräfte Asayish gegenüberstanden und nicht die YPG, spricht für einen gewissen Überraschungseffekt.

Gîre Sipî, Screenshot aus einem Video

Nach Angaben der YPG[2] konnten sich die IS-Kämpfer offenbar ohne Schwierigkeiten über die türkische Grenze wieder zurückziehen. Das Forum der Zivilgesellschaft von Gîre Sipî beschreibt[3] den Angriff so:

In den frühen Morgenstunden des 27. Februar hat eine Gruppe des IS Gîre Sipî angegriffen. Das Asayish Zentrum, das Watani Krankenhaus, das Islan Gebiet und die Dörfer En Arus und das turkmenische Dorf Hemani wurden zum Ziel der Angriffe. Die Angriffe wurden direkt vom Asayish und der SDF beantwortet. Es kam zu schweren Kämpfen. Nach den IS-Milizen bombardierte die türkische Armee das Dorf Hemani. Die IS-Banden drangen aus der Türkei in die Region ein.

Weiterhin wurde berichtet, dass die türkische Armee den Angriff des IS mit Beschuss von YPG-Stellungen begleitete.

Ein Video[4] der Nachrichtenagentur Hawarnews legt nahe, dass auch Luftstreitkräfte beim Kampf gegen den IS beteiligt waren – ein Hinweis auf die gefährliche Dimension der Sache. Nimmt man an, dass der IS tatsächlich von der Türkei aus in Gire Spi eingedrungen ist – was im Mindesten für ein Gewährenlassen auf türkischer Seite spräche -, dann bedeutet dies, dass Erdogan willens ist, an seinem neoosmanischen Projekt festzuhalten, auch wenn er damit einen Kollisionskurs gegen die USA wie auch Russland steuert.

Bruch der Waffenruhe

Vergangene Woche griff Erdogan zu einer simplen Rhetorik[5]: „Al-Nusra kämpft auch gegen den IS. Warum nennt ihr sie schlecht? Ihr sagt Al Nusra sei schlecht, aber die PYD und YPG seien gut. Die Wahrheit ist anders. Nur weil der Standpunkt von Al-Nusra ein anderer ist, sagt ihr das sind gute Terroristen und das schlechte Terroristen.“ Damit offenbarte er seine Frustration über den Ausschluss der al-Nusra von den Waffenruhevereinbarungen und demonstrierte, wie wenig er von der Waffenruhe in Syrien an sich hält.

Dass die Türkei möglicherweise sogar aktiv das Einschleusen von IS-Kräften unterstützt hat, würde einen direkten Bruch der Waffenruhe darstellen. Doch hatte man zuvor schon darauf hingewiesen, dass die Waffenruhe aus Sicht der Türkei nur mit Einschränkungen gelte. So stellte Ministerpräsident Davutoglu frühzeitig klar[6], dass die Waffenruhe nicht für Gruppen gelte „welche die Türkei bedrohen“.

Präsident Erdogan präzisierte am 24.02.16, dass – wie auch der IS und al-Nusra – die „Terrororganisationen PYD und YPG“ nicht in die Waffenruhe eingeschlossen[7] werden (Türkische Regierung gefährdet Feuerpause[8]).

Der Anschlag und das Konstrukt

Spätestens seit dem Anschlag der nordkurdischen TAK in Ankara am 17.02., bei dem 28 Militärangehörige ums Leben kamen, setzt die türkische Regierung und die ihr nahestehenden Medien ganz offen das Konstrukt um, das die YPG und die PYD „Terrororganisationen“ seien, die hinter diesem Anschlag in der Türkei steckten (Türkische Regierung erzählt verwirrende Geschichte vom Ankara-Attentäter[9]).

Trotz der Nachweise, die bestätigen, dass die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) – wie sie das auch selbst reklamieren – hinter dem Anschlag stecken, so zum Beispiel ein DNA-Test, der die Identität des Attentäters bekräftigt[10], hält die türkische Regierung an ihrer Version fest und bombardiert die Region um Afrîn.

Die Angriffe werden von Siegesmeldungen wie „Mitglieder der türkischen Streitkräfte haben 29 PYD-Terroristen durch Mörserbeschuss neutralisiert[11]“ begleitet. Mittlerweile werden Aktionen von rechtsextremen turkmenischen Milizen in staatsnahen türkischen Medien ganz offen als „Siege gegen PYD-Terroristen“ gefeiert[12].

In Aleppo gefallene Mitglieder der rechtsextremen türkischen MHP werden als Helden dargestellt und wie Mitglieder der türkischen Armee mit dem Begriff Shehit – also Märtyrer – bezeichnet[13].

Die UN und das Waffenstillstandsbeobachtungszentrum der USA sind gefragt

Währenddessen fordert[14] das Forum der Zivilgesellschaft von Gîre Sipî eine Untersuchung der Vorfälle bei den Vereinten Nationen: „Als zivilgesellschaftliches Forum von Gire Sipi rufen wir den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf, diese vom türkischen Staat geführten Angriffe zu untersuchen.“

Auch der Sprecher der russischen Waffenstillstandsbeobachtungskomission in Syrien, Sergey Kuralenko erklärte[15], man habe Beweise, dass der IS im Feuerschutz türkischer Artillerie angegriffen habe. Das russische Verteidigungsministerium wandte sich wegen des Bruchs der Waffenruhe durch die Türkei an das Waffenstillstandsbeobachtungszentrum der USA in Amman.

irak.htm

Anhang

Links

[1]

[2]

[3]

[4]

[5]

[6]

[7]

[8]

[9]

[10]

[11]

[12]

[13]

[14]

[15]

Erstveröffentlicht: http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/47/47541/1.html

Dieser Beitrag wurde in Presse, Rojava/Nordsyrien, Türkei, ypg veröffentlicht und getaggt , , . Ein Lesezeichen auf das Permalink. setzen. Sowohl Kommentare als auch Trackbacks sind geschlossen.