„WIDERSTAND HEISST LEBEN, SCHWEIGEN BEDEUTET TOT“: KQ EXKLUSIVINTERVIEW MIT FAYSAL SARIYILDIZ

Cizîr

Cizîr | Foto: KQ

Teil II.

Kurdish Question

Der Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP – Halkların Demokratik Partisi) für Şirnex (türk. Şırnak), Faysal Sarıyıldız war innerhalb der letzten zwei Monate die einzige Informationsquelle aus dem belagerten Stadtteil von Cizîr (türk. Cizre). Er informierte die Öffentlichkeit durch Soziale Medien und rief mehrfach internationale Organisationen auf die Belagerung von Cizîr zu stoppen und somit ein Massaker an den Zivilist_innen zu verhindern.

Sarıyıldız wurde bereits 2011 als Kandidat der Partei für Frieden und Demokratie (BDP – Barış Demokrasi Partisi), aus der die HDP hervorging, ins Parlament gewählt, zu dieser Zeit saß er wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ in Haft. Er wurde 2009 im Zuge der KCK (Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) Operationen verhaftet und 2014 entlassen, ohne Bewährung oder jemals verurteilt worden zu sein. Bei den Wahlen 2015 wurde er dann erneut ins Parlament gewählt, diesmal für die HDP.

Kurdish Question (KQ) hatte die Möglichkeit nach den Massakern in den Gebäuden und Kellern von Cizîr ein Interview mit Faysal Sarıyıldız zu führen, um ein klareres, unzensiertes und unmittelbares Bild von der Situation in Cizîr zu erhalten.

Hier geht es zu Teil I. des Exklusivinterviews: https://isku.blackblogs.org/1544/cizir-ist-nun-wie-kobane-und-sinjar-kq-exklusivinterview-mit-faysal-sariyildiz/

Gibt es einen Dialog zwischen Ihnen und staatlichen Stellen?

Trotz vieler Versuche einen Dialog oder überhaupt einen Kontakt herzustellen, um sich bezüglich der Belagerung zu treffen, kam es nie zu einer Reaktion des Gouverneurs des Bezirks Cizîr (türk. Cizre), er ging weder an sein Telefon, noch antwortete er auf unsere Bitte um eine gemeinsam Sitzung. Auch die Gespräche mit dem lokalen Befehlshaber der Militärpolizei und dem Polizeihauptquartier brachten ebenfalls außer ständiger Bedrohungen keine Entwicklungen mit sich.

Wer denken Sie befehligt die Militäreinsätze in Cizîr? Ankara oder lokale Stellen? Wie viele Spezialeinheiten, Soldaten und Polizisten sind zu Zeit in Cizîr stationiert und eingesetzt?

Was in Cizîr geschehen ist, ist keine lokales Unheil. Ganz ähnlich ist es geschehen und setzt es sich fort in vielen anderen kurdischen Städten und Dörfern. Die staatlichen Kräfte und Beamten haben auch zur Genüge kund getan, dass dies eine umfassende Operation ist. Daraus erschließt sich sehr deutlich, dass diese Operationen von oberster Stelle und mit Hilfe sämtlicher bürokratischer Institutionen und politischen Werkzeuge des Staates ausgeführt wurde und wird. Im März 2015, als der Friedens- und Lösungsprozess noch im vollen Gange war, hat die AKP Regierung das „Paket für die innere Sicherheit“ im Parlament vorgeschlagen und beschlossen. Dies war nichts anderes, als die Vorbereitung für ebene jene Maßnahmen, die der Staat nun durchführt. Alle Operationen, die durchgeführt werden, werden unterstützt, angeregt und durch den Staat und seine Beamten, einschließlich des Präsidenten, des Premierministers, des Innenministers, des Verteidigungsministers, des Generalstabschefs, der Provinzgouverneure, der Bezirksgouverneure, usw. gelenkt und geleitet. Diejenigen, die diese Operationen am Boden ausführen, sind Diener des Staates. Sie werden vom Staat bezahlt und verwenden die militärische Ausrüstung des Staates. Es gibt mehr als 10.000 Soldaten und Spezialeinheiten, die aktiv an den Operationen in Cizîr involviert sind. Wenn wir darüber hinaus in Betracht ziehen, dass sie türkischen Truppen über alle Arten schwerer Artillerie verfügen, dann gibt es genug Soldaten und Spezialeinheiten, um jedes Haus in Cizîr einzeln zu überprüfen.

Es gab mindestens 3 Massaker in Kellern. Können Sie uns genauer Angaben über diese Massaker geben?

Es gab etwa 130 Menschen in den „3 Kellern des Todes“, die Hälfte von ihnen war entweder tot oder verwundet. Die Familien derjenigen, die dort quasi gefangen waren und ich, haben mit dem Polizeihauptquartier in Cizîr und den staatlichen Rettungskräften unzählige Male gesprochen, um die Menschen aus den Kellern in die Krankenhäuser zu bekommen. Aber jede einzelne Bitte wurde unter dem Vorwand der „Sicherheit“ verweigert. Die Gebäude, in deren Keller sich die verwundeten Menschen in ‚Sicherheit‘ gebracht hatten, wurden seit Tagen beschossen. Sie wurden tagelang unter den Trümmern begraben, ohne Essen oder Wasser. Der Staat hat alle menschlichen und gesetzlichen Normen gebrochen und die Verwundeten auf barbarischste Weise niedergemetzelt.

Wir haben keine genaueren Informationen über den ersten Keller. Aber die kommunalen Rettungswagen bargen Leichname, die zuvor von türkischen Einheiten 50 Meter von dem Gebäude entfernt auf die Straße geworfen wurden. Wir wissen nicht, ob sie aus dem Gebäude stammen. Was wir jedoch mit Sicherheit wissen, ist, dass mindestens 110 Menschen in den Gebäuden Zuflucht gesucht haben, niedergemetzelt wurden und dass die meisten von ihnen bei lebendigem Leib verbrannt sind. Es werden mindestens 28 weitere Menschen vermisst, über die wir bisher ebenfalls nichts Genaues wissen. Aber es ist wahrscheinlich, dass auch sie ermordet worden sind. (Seit dem Interview wurde bestätigt, dass mehr als 145 Menschen getötet wurden).

Seitdem die kriegerische Ausgangssperre vor 62 Tagen begann, sind 209 Menschen getötet worden. Bisher konnten nur 80 Menschen identifiziert werden, alle anderen sind immer noch nicht identifiziert. Wir befürchten, dass sich die Anzahl der Getöteten noch vergrößern wird. Es gibt noch viele Leichname auf den Straßen und in den Häusern.

Die staatlichen und nationalen Medien behaupteten, dass die Menschen die Keller trotz mehrmaliger Aufforderung nicht verlassen haben. Warum verließen die Menschen die Keller nicht?

Die Behauptungen der staatlichen Stellen und der Medien, dass die Menschen die Keller trotz mehrerer Aufforderungen und Möglichkeiten nicht verlassen haben, sollen die öffentliche Meinung beeinflussen. Wenn es wirklich so gewesen wäre, dann könnten sie es auch beweisen. Ich hatte telefonisch Kontakt zu den gefangenen Menschen und habe oft mit ihnen gesprochen. Ich weiß viel über sie und ihre Arbeit im sozialen, politischen und feministischen Bereich. Fast 50 Studierende, die aus Solidarität nach Cizîr gereist waren, waren ebenfalls unter den Verwundeten. Jedes Mal, als Rettungswagen versuchten die Keller zu erreichen, haben die Staatskräfte Schießereien inszeniert und den Rettungskräften wegen der „Sicherheit“ den Zutritt verweigert. Anstatt die Menschen in die Krankenhäuser zu bringen, hat der Staat sie von Beginn an ihrem Tod überlassen und wollte sie bewusst massakrieren. Schließlich wurden die Menschen bei lebendigem Leib verbrannt.

Mit diesem Massaker hat der Staat auf seine eigene Art und Weise denjenigen eine Lehre erteilt, die Widerstand leisteten. Er wollte damit die Menschen in anderen kurdischen Städten einschüchtern und züchtigen, es war auch eine Drohung an diejenigen, die in den türkischen Metropolen gegen den Staat aufbegehren. Mit der Rhetorik „Wir verlieren das Land an die Terroristen“, versucht die Regierung ihre extralegalen Methoden zu verbergen und den nationalistischen und konservativen Block zu gewinnen.
Außerdem ist es den freien Medien durch die zunehmende Einschränkung der Pressefreiheit in den letzten paar Jahren fast unmöglich geworden, über die Geschehnisse hier zu berichten. Die aktuelle Medienlandschaft ist darauf ausgerichtet sämtliche Handlungen der Regierung und des Staates zu legitimieren. Demgegenüber wird eine relativ kleine Gruppe von freien Medien kontinuierlich unterdrückt, ihre Reporter_innen ermordet, eingesperrt und gehindert ihrer Abreit nachzugehen. Unter diesen Bedingungen ist es nicht möglich gerechte oder ausführliche Informationen von den Medien darüber zu bekommen, was in den kurdischen Städten vor sich geht. Kurzum geht der Staat mit jeglichen Methoden der psychologischen Kriegsführung vor, die ihm zur Verfügung stehen.

Die Keller in Cizîr haben eine besondere Bedeutung. In den 90er Jahren suchten die Menschen schon einmal Zuflucht in den Kellern. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Gebäude oder Keller sind Räume in denen die Menschen Schutz vor den Angriffen des Staates suchen. Diese Zuflucht hat in Cizîr Geschichte. Die Antwort auf die Erfahrungen des türkischen Staatsterrorismus waren und sind die massiven Gebäude und Keller. Hätten die Menschen diese Zufluchten nicht geschaffen, wer weiß wie viel größer die Massaker gewesen wären.

Sie sind ein Parlamentsabgeordneter für Şirnex (türk. Şırnak) und ein Kind dieser Stadt. Wir wissen auch Sie haben viele Freund_innen verloren. Wie würden Sie ihre seelische Verfassung beschreiben? Können Sie uns über ihre schwersten Momente berichten?

Das Leiden in Cizîr ist unbeschreiblich. Wie kann ich zwischen dem Schmerz unterscheiden, der durch den Tod der Mutter Hediye verursacht wird, die mich noch vor einer Woche um Hilfe bat und dann durch einen Panzer getöt wurde oder dem Mord an dem 3-Monate alten Baby Miray und ihrem Großvater, die in einem blutigen Hinterhalt hingerichtet wurde oder dem Tod meines Freundes Aziz, der durch einen gezielten Kopfschuss ermordet wurde, als er einer jungen Frau helfen wollte oder der Verlust meiner Genossin Sêvê, die ihren glauben an die Revolution in ihrem Lächeln verbarg?

Ein Kind schrieb inmitten des Beschusses durch Panzer, bei dem auch ich getroffen wurde mit Kohle an eine Wand: “Widerstand heißt leben, schweigen bedeutet tot”. Dies war der Ruf von Cizîr…

Ich denke diese Wörter, diese Parole erklären Cizîr und meine Stimmung; Schweigen, herzzerreißende Schreie, Widerstand, Leben, Wrackteile, Wasser, Tyrannei, Flucht, Mut, Freiheit, blutige Gesichter, Jugendliche mit strahlendem Blick, Hoffnung…

Sie haben vor kurzem Bitten und Aufrufe an viele internationale Organisationen gesendet. Haben sie irgendwelche Antworten erhalten?

Die HDP und ich verfassten mehrere Briefe und Aufrufe, auf die bisher keine bedeutenden Antworten oder eingreifenden Handlungen folgten.

Wie können die Angriffe des Staates gestoppt werden?

Nach unserer Auffassung haben die türkischen Truppen in naher Zukunft keine Absicht ihre Angriffe zu beenden. Der türkische Staat versucht zudem durch diese Angriffe seinen politischen Misserfolg in Syrien und speziell Rojava zu vertuschen. Außerdem will er diskreditieren, kriminalisieren und die Motivation und Dynamik unterdrücken, die durch die Entwicklungen in Rojava und die Forderung der Kurd_innen während des Lösungs- und Friedensprozesses entstanden sind, die weltweite Legitimationen erhalten haben. Eine vereinigte und organisierte Opposition der demokratischen Kräfte ist das Einzige, was die Angriffe des Staates schwächen kann. Aber auch die Unterstützung durch die internationale öffentliche Meinung ist sehr wichtig.

Wohin werden uns diese Entwicklungen führen?

Die kapitalistische Wirtschaft vor allem im Bereich der Energiequellen und ihrer wichtigsten Standbeine steckt in einer tiefen Krise. Die imperialistischen Mächte führen ständig neue Bestrebungen, um neue Öl- und Gasvorkommen in der Region zu sichern. Die Entwicklungen hier, besonders seit dem ersten Golfkrieg, schaffen täglich neue Widersprüche, neue Verbindungen, neue Probleme und neue Gelegenheiten. Zu Letzt auch durch die Gräueltaten Daeshs (IS). Demgegenüber stehen die demokratischen Wünsche und kämpfenden Menschen dieser Region gegen die autoritären Regime.

Eines der wichtigsten Beispiele davon sind sicherlich die Kurd_innen. Die Kurd_innen wollen Demokratie und Selbstverwaltung. In Rojava gibt es eine Machtvakuum und einen aktiven Kampf, in der Türkei werden die Bestrebungen der Kurd_innen verweigert, ihr Kampf kriminalisiert, unterdrückt und delegitimisiert. Jedoch ist es im Kommunikationszeitalter nicht leicht die Forderung der Menschen nach Demokratie, Gleichheit und Freiheit zu ersticken. Die Kurd_innen werden weiterhin für ihre Forderung nach „gleicher und freier Staatsbürgerschaft“ in der Türkei kämpfen und dieser Kampf ist bedeutungs- und wertvoll. Es ist eine universelle, legitime und demokratische Forderung. Solange es keine Demokratie gibt, in der die Kurd_innen einen Status haben und sagen können, dass sie Kurd_innen sind, werden sie ihren Kampf fortsetzen.

Danke für dieses Interview und Ihre Zeit.

Danke.

KQ, 16.02.2016, ISKU

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