Hasan Kiliç , Mitglied des Fachbereichs Politikwissenschaften der Universität Ankara
Die „Selbstverwaltung“ gehört derzeit zu den am meisten diskutierten politischen Begrifflichkeiten in der Türkei. Die Forderung der KurdInnen nach Selbstverwaltung, der hierfür geführte Widerstand, die Angriffe des türkischen Staates und die Selbstverwaltung der kurdischen Kommunen begleiten das politische Geschehen in der Türkei. Aber sowohl die z.T. unzureichende und fehlerhafte Praxis auf kurdischer Seite als auch die Manipulationsversuche des türkischen Staates führen allzu oft dazu, dass der Begriff Selbstverwaltung verwässert und dadurch schwer verständlich wird. Wir wollen aus diesem Grund anhand von verschiedenen Fragestellungen uns dem Konzept der Selbstverwaltung annehmen.
1. Was ist die Bedeutung der Selbstverwaltung? Welche Möglichkeiten der politischen und verwaltungstechnischen Möglichkeiten eröffnet sie?
Die Organisierung der Bevölkerung und die Umsetzung des politisch-moralischen Gesellschaftsmodells – das ist der Kern der Selbstverwaltung.
Eine Bevölkerung, die in Fragen der eigenen Verteidigung, der Wirtschaft, Produktion, Kultur und Bildung ihren eigenen Bedürfnissen durch Selbstorganisierung selbst genügen kann, hat bei dem Aufbau ihrer Selbstverwaltung bereits große Schritte getan. Zu der grundlegenden Philosophie der Selbstverwaltung gehört außerdem, das gesellschaftliche Leben von der Basis her selbst zu organisieren, ohne dabei der klassisch hierarchischen Bürokratie des Nationalstaates zum Opfer zu fallen. Die Hauptmotivation einer Gesellschaft, ihre Selbstverwaltung aufzubauen, sollte sein, sich von der abhängigen Position gegenüber dem Staat zu befreien und sich auf seine eigenen Fähigkeiten als Mensch und als Gesellschaft zu verlassen.
2. Wo ist das Konzept der Selbstverwaltung im Rahmen der Debatten um eine Umgestaltung des türkischen Systems anzusiedeln?
Zunächst einmal müssen wir folgende Feststellung festhalten: Das Verständnis der Selbstverwaltung ist die Antithese zu der offiziellen Ideologie des türkischen Staates und seinem strikt zentralistischen und bürokratischen Verständnis, das die Gesellschaft ausschließlich als Objekt wertet. Die Selbstverwaltung ist auch der demokratische Gegenentwurf zum von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“. Wäre es uns gelungen, das System der Selbstverwaltung der Gesellschaft besser verständlich zu machen, so hätten heute die Menschen in der Türkei dieses Konzept offen und breit diskutieren können. Allerdings ist es den demokratischen Kräften in der Türkei in Zeiten von staatlichen Repressionen und Kriminalisierung durch das türkische Regime nicht ausreichend gelungen, ihr Konzept der Bevölkerung in vollem Umfang zugänglich zu machen.
3. Mit dem Thema Selbstverwaltung wird auch das Thema Selbstverteidigung viel diskutiert. Was ist mit der Selbstverteidigung gemeint?
Die Selbstverteidigung ist weitaus mehr, als die Verteidigung eines Territoriums durch das Ausheben von Gräben und das Bauen von Barrikaden. Die Selbstverteidigung bedeutet in erster Linie die Verteidigung aller Werte des ökologischen Lebens, der Geschlechtergerechtigkeit und der moralisch-politischen Gesellschaft. Deswegen ist es zu eng gegriffen, wenn man sich die Selbstverteidigung lediglich als bewaffnete Selbstverteidigung vorstellt. Um ein Beispiel aufzugreifen: In den vergangenen Tagen wurde durch das Einwirken des kollektiven gesellschaftlichen Willens verhindert, dass in Kurdistan ein 12-jähriges Mädchen zwangsverheiratet wurde. Dieser Vorfall ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Selbstverteidigung. Auch der Widerstand am Schwarzen Meer für den Schutz der Natur ist ebenso eine Praxis der Selbstverteidigung wie der Widerstand der Gesellschaft in den Stadtteilen von Istanbul gegen den Drogenverkauf.
Doch wenn wir nochmal auf die Barrikaden in Nordkurdistan zurückkommen wollen: Der Bau der Barrikaden oder andere Widerstandspraktiken entgegen der organisierten Gewalt des Staat ist ohne Frage auch eine Notwendigkeit der Selbstverteidigung. Denn mit Hilfe dieser Praxis versuchen die Menschen in ihren Bezirken ihr Recht auf Leben vor den Angriffen des Staates zu schützen. Um sich diese Realität einmal deutlich zu machen sollte man sich vor Augen führen, wie die staatlichen Kräfte in verschiedenen Orten Nordkurdistans in jüngster Zeit gegen die Bevölkerung vorgegangen sind: Sie haben Massaker an Zivilisten verübt, Häuser und Wohnungen in Brand gesetzt und ganze Stadtbezirke zerstört und für die Bevölkerung unbewohnbar gemacht. Allein wenn man sich die Wandschmierereien der Spezialeinsatzkräfte in Farqîn (Silvan) anschaut, wird deutlich, dass es diesen Kräften nie darum ging, die Barrikaden weg zu machen, sondern den Willen der kurdischen Bevölkerung zu brechen.
Zusammengefasst, die Selbstverteidigung ist eine Dimension der Selbstverwaltung. Sie bedeutet in erster Linie Widerstand dort zu leisten, wo das Recht auf Leben angegriffen wird. In welcher Form die Selbstverteidigung praktiziert wird, hängt vom Ort, der Zeit und der Haltung der gegnerischen politischen Kraft ab. Aber weit gefasst dient die Selbstverteidigung zum Schutz der Gesellschaft, der Natur, des demokratischen Lebens und der Gleichberechtigung der Geschlechter.
4. Wie wurde die Ausrufung der Selbstverwaltungen von den Menschen in Kurdistan aufgenommen?
Die Diskussionen um den Aufbau der Demokratischen Autonomie laufen in Nordkurdistan bereits seit geraumer Zeit. Die Ausrufung der Selbstverwaltung wurde aktuell insbesondere von den unterdrückten und ärmeren Teilen der Gesellschaft mit großer Begeisterung angenommen. Die Frauen, die Jugend und die ärmeren Klassen der Gesellschaft unterstützen die Selbstverwaltungen mit all ihrer Kraft. Mit gewissen Einschränkungen haben auch die Menschen, die ihren Unterhalt mit dem Einzelhandel betreiben, die Selbstverwaltungen begrüßt und unterstützt. Die sich der Selbstverwaltung entgegengestellt hat, waren insbesondere die Menschen aus den reicheren Klassen. Auch wenn diese oftmals nicht mehr vor Ort leben, haben sie über ihre Beziehungen vor Ort ihren Unmut bekundet. Die Menschen aus diesen Klassen sind in der Regel dieselben Menschen, die ihre Vorteile aus dem Kolonialstatus von Kurdistan ziehen – denen der Staat die regionalen Märkte überlässt. Es ist Aufgabe der Selbstverwaltung eine ideologische Gegenposition gegenüber diesen Kreisen zu entwickeln und Lösungen für die sozialen, ökonomischen und verwaltungstechnischen Probleme der Kommunen zu entwickeln. Denn nur so kann den Kritikern der Nährboden genommen werden.
5. Wie sind die staatlichen Angriffe auf Nordkurdistan zu werten, die sich vor allem auf die Städte richten, welche die Selbstverwaltung ausgerufen haben?
Diese militärischen und politischen Operationen stellen den Versuch dar, Nordkurdistan von Neuem zu besetzen. Denn nach den Wahlen vom 07. Juni und vom 01. November haben sich auf der Landkarte der Türkei die kurdischen Städte durch die Farbe der HDP gekennzeichnet. Hiergegen haben die AKP und der Staat einen Krieg entfacht.
Die Wahlergebnisse waren in Nordkurdistan zugleich auch eine Bekundung der Bevölkerung, dass sie hinter dem Aufbau der Selbstverwaltung steht. Der Staat hat verstanden, dass er seine Hoheit und seine Legitimität in Nordkurdistan vollends eingebüßt hat. Nun hatte der Staat nur zwei Möglichkeiten darauf zu reagieren: Er hätte die Selbstverwaltungen zum Thema von demokratischen Lösungsverhandlungen machen können und so sie auf einer gewissen Ebene anerkennen können. Der zweite, von der AKP eingeschlagene Weg ist eine Wiederholung des 90-jährigen staatlichen Reflexes des türkischen Staates und zwar auf die Forderungen der KurdInnen mit einem Krieg zu reagieren. Mit den Angriffen auf Farqîn (Silvan), Sur, Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin), Gımgım (Varto) und anderen Bezirken und Stadtteilen in Kurdistan hat der Staat eine zeitgenössische Variante des Besatzungskrieges gegen die KurdInnen von 1924 bis 1938 entfacht.
6. Wie wird es in Zukunft mit der Forderung nach einer Selbstverwaltung weitergehen?
Wie es in der Zukunft mit dieser Forderung weitergehen wird, hängt von der Antwort ab, welche diesem neuerlichen Besatzungskrieg entgegengebracht werden kann. Wenn dem Besatzungskrieg des türkischen Staates auf der politischen, diplomatischen und gesellschaftlichen Ebene eine gebührende Antwort der Gesellschaft gegeben werden kann, so wird der Staat sich nicht davor drücken können, früher oder später die Selbstverwaltung mit der kurdischen Seite zum Verhandlungsthema zu machen. In diesem Fall hätte die Forderung nach Selbstverwaltung sicherlich eine Zukunft.
Sollte allerdings der Besatzungskrieg der Türkei erfolgreich sein, werden nicht nur die kurdische Bevölkerung und Kurdistan verlieren, sondern alle Völker und Identitäten der Türkei werden eine empfindliche Niederlage hinnehmen. Aus diesem Grund muss der gesellschaftliche Widerstand gegen den Krieg der Türkei über Kurdistan hinaus ebenso ausgeweitet werden, wie die Aufbauarbeiten der Selbstverwaltungen.
Damit das Modell der Selbstverwaltung über Kurdistan hinaus auch in der Türkei, im Mittleren Osten und weltweit an Bedeutung gewinnt, soll und muss diese Idee stärker thematisiert und intensiver diskutiert werden.
YÖP, 18.11.2015, ISKU