Entscheidender Schritt der Türkei hin zum Präsidialregime

Türkei – Mitte Januar soll dem türkischen Parlament eine Verfassungsänderung zur Abstimmung vorgelegt werden. Diese Vorlage einer Verfassungsänderung ähnelt keiner zuvor. Denn es werden hier nicht nur Änderungen in der Verfassung vorgenommen sondern es soll ein Regimewechsel vollzogen werden. Danach wird die Türkei eine andere sein, möglicherweise eine Türkei, die ihre Chance auf lange Zeit vertan hat. Die Chance auf Demokratie. Mithat Sancar (HDP), Mitglied der Verfassungskommission des türkischen Parlaments erklärte, dass mit dem Verfassungsentwurf dem parlamentarischen System (in der Türkei) der Todesstoß versetzt werde. Was an seine Stelle rücke sei ein Willkürregime unter der Knute eines Mannes. Er fasste der Verfassungsentwurf in drei Sätzen zusammen; mit dem Verfassungsentwurf werde, so Mithat Sancar, die Befugnisse des Staatspräsident maßlos erweitert, die Befugnisse des Parlaments maßlos beschnitten und Kontrollmechanismen ausgehebelt. Für ihn ist eines klar, hier will jemand um jeden Preis „Sultan“ werden und der „lässt sich dann auch nicht von der Verfassung oder dem Gesetz beschneiden“. Auch die CHP, die durch ihre Politik maßgeblich daran mitgewirkt hat, Erdoğan und der AKP den Weg zu ebnen, ist besorgt und spricht von „Dikatur“ und einem „Ein-Mann-Regime“, dass da auf die Türkei zukomme.

Die Verfassungsänderung sieht im Einzelnen Folgendes vor:

  • Anhebung der Abgeordnetenzahl von 550 auf 600
  • Der verfassungsmäßigen Verpflichtung der Gerichtsbarkeit zur „Unabhängigkeit“ kommt die Verpflichtung zur „Neutralität“ hinzu.
  • Das Mindestalter für Abgeordnete des türkischen Parlaments wird von 25 auf 18 Jahre gesengt.
  • Die Parlamentswahl (Abgeordnete) und die Wahl des Staatspräsidenten sollen am gleichen Tag erfolgen. Sie werden für jeweils 5 Jahre gewählt.
  • Der Vorstoß zu sogenannten Ersatzabgeordneten wurde abgelehnt und ist damit vom Tisch.
  • Die Kontrollfunktion des Parlaments wird neu geregelt. Demnach kann das Parlament zu allmeinen Themen Stellung nehmen und zu bestimmten Themen parlamentarische Untersuchungskommissionen bilden. Die parlamentarische Untersuchungskommission dient nur dazu, „sich zu einem bestimmten Thema zu informieren“. Themen, die die Gesellschaft betreffen, werden vom Parlament, das türkische Parlament besteht aus nur einer Kammer, behandelt. An Sitzungen von Parlament oder parlamentarischer Untersuchungskommission sind Vertreter der Exekutive nicht zugelassen. Abgeordnete dürfen in schriftlicher Form Anfragen an die Vizestaatspräsidenten und an die Minister stellen. Diese sind innerhalb von zwei Wochen zu beantworten. Es handelt sich bei Anfragen allerdings nur um Fragen die gestellt werden dürfen. Alles Weitere regelt die Hausordnung.
  • Die Verfassungsänderung erlaubt es dem Staatspräsidenten Mitglied einer Partei zu sein. Was zuvor unmöglich war und auch jetzt umstritten ist. Darüber hinaus genügt es als Voraussetzung für das Amt des Staatspräsidenten die türkische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Es wäre also nicht mehr nötig in der Türkei geboren zu sein. Auch scheint eine bestimmte Schulbildung nicht mehr Voraussetzung zu sein. Gerade Erdoğan hatte sich noch Tage vor dem Putschversuch in der Türkei viele Fragen hinsichtlich seiner Schulbildung und damit seiner Legitimation gefallen lassen müssen. Bis heute ist sein Schulzeugnis verschwunden und nicht auffindbar.
  • Des Weiteren kann der Staatspräsident das Parlament auflösen. Das Parlament hingegen kann Ermittlungen gegen den Staatspräsidenten zulassen. Staatspräsident und Parlamentsabgeordnete bleiben so lange im Amt bis neue Abgeordnete bzw. der neue Staatspräsident im Amt sind.
  • Das Parlament benötigt zum Beschluss von Neuwahlen eine Mehrheit von 3/5 aller Sitze.
  • Der Staatspräsident wird durch die Verfassungsänderung autorisiert den Notstand (OHAL) verhängen zu können. Zur Gültigkeit der Verhängung des OHAL ist eine Zustimmung durch das Parlament dann nicht mehr innerhalb eines Monats sondern erst innerhalb von 3 Monaten notwendig. Zu den Gründen für die Verhängung des Notstands wird die Mobilmachung hinzugefügt.
  • Die Militärgerichtsbarkeit wird aufgehoben. Mitglieder des Verfassungsgerichts, die der Militärgerichtsbarkeit entstammen, werden aus diesem entfernt. Damit singt die Zahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts auf 15.
  • Die Mitgliederzahl der HSYK (Hâkimler ve Savcılar Yüksek Kurulu/Höchstes Organ der Richter und Staatsanwälte) wird auf 13 angehoben.
  • Die nächsten Wahlen zum Staatspräsidenten und die nächsten Parlamentswahlen finden am 3. November 2019 statt.

Aus cumhuriyet und Yeni Özgür Politika, 30.12.2016, ISKU

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