Das selbstverwaltete überwiegend kurdische Nordsyrien – genannt Rojava – steht mehr denn je unter einem Embargo, von allen Seiten.
Enzan Munzur
29.01.2017
Sie schleichen sich gebückt am Hang um den Militärposten. Die Gruppe kommt langsam voran, weil alle eine Last auf ihren Rücken haben. Nach dem sie keinen Sichtkontakt mehr haben, verschnaufen sie. Dann müssen sie sich hinlegen, denn gerade fahren zwei Autos über die wenig befahrene Straße in entgegengesetzter Richtung. Vorbei, jetzt geht es runter an den Fluss, es muss schnell gehen …
Seit die KurdInnen im Norden des Staates Syrien ihre Orte 2012 im Schatten des Krieges in Syrien befreit und eine Revolution eingeleitet haben, werden sie von allen Himmelsrichtungen aus feindlich behandelt. Neben den ununterbrochenen militärischen Angriffen von verschiedenen Kräften macht ihnen das ebenfalls von vielen Kräften verhängte Embargo viel zu schaffen. 2016 hat das Embargo eine Form angenommen, die das Leben äußerst erschwert.
Zunächst schien es nach der Befreiung vom syrischen Regime so, dass die KurdInnen weitgehend friedlich das von ihnen anvisierte Gesellschaftsmodell der „Demokratischen Autonomie“ aufbauen könnten. Angeführt von der linken Partei der Demokratischen Einheit (PYD) hat die Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) 2011 angefangen, in den Städten und Dörfern von Nordsyrien – als Rojava bezeichnet – Rätestrukturen aufzubauen. Als Verteidigungskraft wurden die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) aufgebaut. Die politische Struktur wurde 2014 mit weiteren kurdischen, arabischen und aramäischen (assyrischen) Kreise mittels der „Kantone“ bzw Demokratisch-Autonomen Selbstverwaltungen erweitert. In 2016 wurde als nächster Schritt die „Demokratische Föderation von Nordsyrien“ ausgerufen, die weitere Kreise in den von den Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) vom IS befreiten Gebieten (wie Manbic) mit einbezieht.
Doch vor allem die türkischen Regierung und die salafistisch-nationalistischen bewaffneten Organisationen sahen in diesem schnell erstarkenden Modell eine große Gefahr für ihre undemokratischen Ziele. Die türkische Regierung knüpfte ihre Hilfe an diese Gruppen (wie Al-Nusra und reaktionäre Teile der FSA) an Angriffe gegen Rojava und ab 2013 begannen dann die Angriffe. Die brutalste dieser reaktionären Kräfte, der Islamische Staat (IS), wartete nicht lange auf eine türkische Aufforderung und führt seit 2014 ununterbrochen die heftigsten Angriffe aus. Im Oktober 2015 begann die türkische Armee damit, fast täglich über die Grenze zu schließen. Im August 2016 marschierte sie in Nordsyrien angeblich gegen den IS ein, doch hauptsächlich ging es darum, die YPG/YPJ/SDF an ihrem Vormarsch im Norden der Provinz Aleppo zu hindern und in einem zweiten Schritt in ihren Kerngebieten sogar anzugreifen. Die SDF haben sich bisher gut gegen die türkische Armee behaupten können, auch weil die internationalen und regionalen Mächte nicht an einer zu großen Ausbreitung der türkischen Armee interessiert sind. Gegen den IS sind die SDF seit zwei Jahren langsam aber sicher auf dem Vormarsch. Die anderen islamistisch-chauvinistischen Gruppen haben schon lange kaum eine Chance gegen die SDF. Das Baath-Regime hingegen ist nicht so stark, dass sie umfassend angreifen können. Kurz: Militärisch ist die Lage nicht schlecht …
Die Füße werden nass und kalt. Denn es ist Winter, der Berg nebenan hat Schnee auf dem Gipfel. Manche konnten nicht abschätzen, dass sie knöcheltief ins Wasser müssen. Keiner von ihnen hat je im Leben so was getan. Angekommen auf der anderen Seite verschnaufen sie ein zweites Mal. Doch es muss schnell gehen … Es muss immer schnell gehen …
Für den Aufbau des neuen Gesellschaftsmodells von Rojava und die anderen befreiten Gebiete Nordsyriens ist das Embargo viel kritischer als die militärischen Gefahren. Die nördliche Grenze ist von der Türkei seit Januar 2016 zu 100 % geschlossen, jede kleine Hilfe ist seitdem gestoppt, selbst Flüchtlinge können nicht mehr durch; „illegale“ Grenzübertretungen werden sofort und ohne Vorwarnung mit Schusswaffen erwidert. Davon sind auch die Schmuggler erheblich betroffen und können kaum mehr was schmuggeln. Dieses verschärfte Embargo seitens der Türkei hat vor allem mit den zugenommenen politischen Repression gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung, die KurdInnen im allgemeinen und den demokratischen Kräften in der Türkei zu tun. Schlimmer empfinden die Menschen von Rojava/Nordsyrien das Embargo im Osten von Rojava durch die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), welche mit Barzani den Präsidenten im kurdischen Nordirak stellt. Im Süden ist der IS, welcher nur selektiv diejenigen wenigen Händler durchlässt, die politisch nicht der Selbstverwaltung von Nordsyrien/Rojava nahestehen und einige Güter in begrenztem Maße handeln dürfen. Die Preise dieser Güter sind aber sehr hoch und von den meisten Menschen kaum zu bezahlen. Das syrische Regime hat Kontakt an einigen Punkten mit den vom SDF gehaltenen Gebieten, was nur für die westliche Enklave von Afrîn (nordwestlich von Aleppo) – getrennt vom Hauptgebiet um Kobanê und Qamişlo in Nord- und Nordostsyrien – etwas vom Nutzen ist. Die ankommenden Güter sind ebenfalls sehr teuer. Doch Geld hat Rojava und ihre BewohnerInnen kaum …
Dann müssen sie sich wieder sputen, auch wenn der Mond die Landschaft nicht erhellt. Die da oben könnten ja ihre Faulheit für einen Moment überwinden und tatsächlich runterschauen mit ihrer Wärmebildkamera.
Das ist tägliche Realität an der Grenze zwischen Südkurdistan (Nordirak) und Westkurdistan/Rojava (Nordsyrien). Besser gesagt: Zwischen zwei selbstverwalteten kurdischen Regionen! Während Südkurdistan seit 1991 sich selbstverwaltet, ist dies der Fall von Rojava seit 2012. Nach Jahrhunderten von Besatzung ihres Lands durch andere Staaten haben sie es geschafft, sich endlich zu befreien. Es sind die zwei kleineren Teile Kurdistans. Der normalen menschlichen Logik nach müsste das seit 26 Jahre freie Südkurdistan doch dem sich neu befreiten Rojava in vielen Punkten helfen? Zu mindestens sollte es doch kein Embargo geben – oder? Von offenen Grenzen können nur beiden Seiten, alle KurdInnen und DemokratInnen in der Regionen profitieren.
Es ist so dunkel, dass sie kaum sehen, wo sie hintreten. Manchmal finden sie sich in der nassen und matschigen Erde eine Ackerfeldes. Manchmal treten sie auf Steine. Unachtsame können umknicken, ausrutschen und schließlich fallen. Und das passiert immer wieder, alle fünf Minuten. Der Mensch, der sie anführt, macht umgehend ihnen gegenüber Zeichen aufzustehen. Es ist nicht mehr weit. In der Tat, nach einer Stunde sind sie durch. Geschafft! Alle sind überaus glücklich, einige fangen an zu singen …
Leider will die PDK das nicht. Sie hat vielmehr das Ziel, dass Rojava als politisches Projekt scheitert oder sich der PDK anbiedert und unterordnet, in dem sie ihre progressiven und revolutionären Inhalt aufgibt. Dass die PDK eine andere ideologische Auffassung hat, muss nicht die logische Konsequenz eines allumfassenden Embargos haben. Es gibt viele offenen Grenzen in dieser Welt, welche zwei Gebiete mit entgegenstehenden politischen Inhalten verbinden. Um dieses inhumane Embargo zu verstehen, müssen wir den Druck der Türkei in die Betrachtung einbeziehen. Die PDK unterhält mit ihr seit einigen Jahren beste politische und wirtschaftliche Beziehungen; über die Türkei läuft der größte Teil des Handels und Verkauf von gefördertem Erdöl.
Was die politischen Strukturen der Kantone bzw. der neu ausgerufenen Föderation von der PDK erwarten, ist weder eine finanzielle Unterstützung, noch der Verkauf von Erdöl oder Weizen – beides gibt es im Überfluss – aus Rojava an den Weltmarkt, sondern die Öffnung der Grenze für Nahrungsmittel, Medizin, medizinisches Gerät, Maschinen und Ersatzteile für die Grundversorgung und Daseinsvorsorge, Bücher etc. Zwar war der Grenzübergang Semalka (Faysh Khabur) seit 2012 immer wieder mal kurz geschlossen, doch sie war weitgehend geöffnet für eine Reihe von Gütern.
Die PDK behauptet zwar, dass die Grenze nur drei Monate lang im Frühjahr 2016 geschlossen gewesen sei. Doch die Realität sieht anders aus: Heute dürfen nur direkt mit der PDK eng zusammenarbeitende Personen und Unternehmen aus Südkurdistan Güter nach Rojava bringen und dort verkaufen. Die vielen Händler aus Rojava können vom Grenzhandel überhaupt nichts mehr verdienen; sie sind de facto arbeitslos geworden. Wegen den hohen Steuern durch die PDK an der Grenze sind die transportierten Güter in Rojava sehr teuer. Die Palette der Güter ist äußerst begrenzt. Es handelt sich um einige Nahrungsmittel, kleine elektronische Geräte wie Handys, Kleider, aber keine medizinischen Güter oder Güter für die Verbesserung Infrastruktur der Grundversorgung und Daseinsvorsorge (wie Wasser- und Stromversorgung). Die Zahl der Transporter, die rüberfahren, ist sehr eingeschränkt. Oft sind es nur fünf LKWs pro Tag in ein Gebiet, wo bis zu 4 Mio. Menschen leben.
Das Embargo wird gezielt auch gegen Menschen eingesetzt. Seit März 2016 dürfen Ausländer in fast allen Fällen nicht mehr einreisen, womit die internationale Solidarität eingeschränkt werden soll. Während bis dahin JournalistInnen und interessierte Menschen/AktivistInnen einmal zumindest einreisen durften, geht es heute überhaupt nicht mehr. Nur wenige JournalistInnen von den weltgrößten Medien können manchmal durch. Oder der PDK nahestehende JournalistInnen, die voreingenommen berichten, dürfen durch. Aus Rojava stammende Menschen/Flüchtlinge dürfen nur noch in Ausnahmefällen rein oder raus. Statt dessen haben sich der PDK nahestehende mafiöse Strukturen gebildet, die Jugendliche aus Rojava für Geld heraus schleusen.
Menschen, die trotzdem die Grenze passieren, werden bei Entdeckung oft inhaftiert. Es folgen meistens monatelange Haftstrafen und nicht selten Schläge seitens der „Sicherheitskräfte“, über einige Fälle von systematischer Folter ist auch schon berichtet worden. Noch ist die Grenze nicht so systematisch geschlossen wie durch die Türkei, so dass einige es schaffen, rüberzukommen. Meistens sind es Schmuggler. Nicht selten sind es Menschen aus Rojava, die z.B. zu Familienbesuchen oder zur medizinischen Behandlung wollen. Betroffen sind auch Menschen, die am politischen Projekt interessiert sind. Wie schwerwiegend das Embargo ist, zeigt das Beispiel von mehreren aus Europa gespendeten Krankenwagen, die seit Monate auf die Passage abwarten. Ein Spaziergang durch die Straßen von Rojava zeigt auf, dass nicht nur HändlerInnen oder VerkäuferInnen, sondern einfache Menschen auf der Straße sehr sauer auf die PDK sind.
Das Land der KurdInnen, Kurdistan, ist auf vier Staaten aufgeteilt. Wenn diese Staaten die Grenzen dicht halten wollen, ist das logisch und irgendwie verständlich, weil sie die KurdInnen unterdrücken, assimilieren und ihr Land ökonomisch ausbeuten wollen. Aber dass KurdInnen andere KurdInnen mit einem Embargo unter Druck setzen, und dabei die Krankheit und den Tod von vielen Menschen und schließlich eine Flucht von Tausenden bewusst in Kauf nehmen, ist nicht ganz verständlich. Zum einen, weil alle KurdInnen bis vor Kurzem unterdrückt wurden, und zum anderen, weil die KurdInnen mit ihren Erfolgen in allen vier Staaten in diesen Jahren die einmalige Chance haben, endgültig offiziell das sie unterdrückende politische System im Mittleren überwinden können. Wenn Rojava scheitert, wird auch bald Südkurdistan scheitern. Denn der türkische Staat wird niemals Südkurdistan als autonome Region (nicht zu sprechen von einem kurdischen Staat) akzeptieren und es ausbluten lassen, wenn Rojava zerschlagen wäre.
Wenn die PDK ihren feudalistischen Charakter überwinden und eine „normale moderne“ nationalistische Partei sein könnte, würde sie nicht wieder Verrat an KurdInnen, wie in den letzten 40 Jahren schon öfters getan, begehen. Die Türkei freut sich über diesen Zustand der PDK, für dessen Erhalt sie alles tut.