Die Selbstorganisierung und -versorgung in Rojava schreitet voran
Enzan Munzur, 05.02.2017
Die Revolution von Rojava hat eine ganz besondere Dynamik, die schwierig ist in Worte zu fassen und immer wieder im positiven Sinne überrascht. Die Diskussionen der kurdischen Freiheitsbewegung können im ersten Augenblick sehr praktisch orientiert und wenig theorietief erscheinen, besitzen jedoch eine unglaublich starke Weitsicht.
Am 19. Juli 2012 formierten sich mit der Revolution in Rojava die Volksräte auf Stadtteilebene in der Öffentlichkeit, um das Modell der „radikalen Demokratie“ praktisch werden zu lassen. Nach einigen Monaten stellte man fest, dass die Stadteilvolksräte noch nicht nah genug an der Bevölkerung sind, um eine wirkliche Selbstorganisierung zu gewährleisten. Ergebnis der darauf folgenden Diskussion war auf einer unteren Ebene „Kommunen“ (kurdisch: komîn) aufzubauen und so mehr Menschen an der Basis in die Selbstorganisation einzubeziehen, als eine direktere Form der „radikalen Demokratie“. Heute gibt es mehr als 4000 Kommunen in ganz Rojava, viele sogar in den anschließenden befreiten Gebieten außerhalb von Rojava, wie beispielsweise Minbic oder Şedade. Weder der Aufbau der Demokratisch-Autonomen Selbstverwaltungen ab Januar 2014 noch die Ausrufung der Demokratischen Föderation von Nordsyrien im März 2016 – beide bringen nicht unbedingt automatisch die radikale Demokratie mit – hat daran etwas verändert sondern im Gegenteil zu einer kontinuierlichen Erweiterung des Rätesystems geführt.
Die Revolutionäre von Rojava arbeiten unentwegt daran, überall Kommunen aufzubauen. Sie gehen auch gezielt zu den weniger politisierten oder politisch ihnen entfernt stehenden Menschen. Kommunen sind Strukturen ganz unten in der Gesellschaft, wo die von der Revolution propagierte Selbstorganisierung hauptsächlich stattfindet. Menschen in einem Dorf oder in urbanen Gebieten, Haushalte von 1–3 Straßen kommen zusammen, diskutieren zusammen, organisieren sich und bilden Kommissionen zu verschiedenen Themenfeldern und damit auch ihre Koordination. Die Koordination trifft sich wöchentlich, ist in den Straßen oft anzutreffen oder sie besucht regelmäßig die Haushalte, natürlich auch diejenigen, von denen sich keine beteiligen. Sie ruft alle Haushalte zu Versammlungen auf, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gilt. Das passiert oft, mindestens einmal im Monat. Auf diesen informiert sie auch über die Diskussionen und Entscheidungen auf den Volksversammlungen der nächsten Ebene; in der Stadt ist es der oben genannte Stadtteilvolksrat und auf dem Land der Volksrat von etwa 7 bis 10 Dörfern.
„Ich gehe zu fast allen Demonstrationen, die in dieser Stadt stattfinden. Und zwar mit der Frauenbewegung Kongreya Star, der ich angehöre“, sagt die etwa 55-jährige Yade, die mir gegenüber auf dem Boden sitzt. Dazwischen der Ofen, um den sich alle im Raum versammeln. In diesen Tagen ist es sehr kalt in Rojava, es weht ein scharfer Wind. „Das im Ofen brennende Dieselöl besorgt unsere Kommune, die dafür eigens eine Wirtschaftskommission gegründet hat. So ist es viel günstiger und die Qualität ist halbwegs gesichert. Sonst müssten wir es auf dem freien Markt holen, wo sich Händler jeder Couleur befinden“. Es dauerte zwei Stunden, bis sie diese Informationen teilte. Gegenüber von außen kommenden Menschen verhalten sich die Menschen in Rojava häufig freundlich und zurückhaltend.
Die Kommune kauft für ihre Haushalte gemeinsam auch Grundnahrungsmittel (Zucker, Salz, Bulgur, Speiseöl, Brot etc.) und andere wichtige Güter um etwa 20–35 % günstiger direkt bei den Produzenten und Großhändlern ein. Da wo Kooperativen Güter produzieren oder betreiben, werden diese natürlich bevorzugt. Relativ viel wurde in den letzten Monaten von der Kooperative „Hevgirtin“ bezogen. Sie gibt es in ganz Rojava und vertreibt und verkauft mittels kooperativen Supermärkten und anderen Strukturen bevorzugt Produkte von landwirtschaftlichen Kooperativen und andere lokale Produkte. Da aber in Rojava nicht alles, was gebraucht wird, selbst produziert wird, müssen leider auch über Händler importierte Güter gekauft werden.
Diese in den letzten zwei Jahren zunehmende Praxis des Aufbaus und der Unterstützung von kooperativer Ökonomie, stärkt die Kommunen in ihrer Struktur, weil sie sich um eine breite Palette von materiellen Bedürfnissen sorgt. Sie tut jedoch etwas noch Wichtigeres: Menschen, die von der kapitalistischen Moderne von ihrem sozialen Zusammenhalt losgerissen und vom Staat abhängig in allen Dingen des Lebens gemacht wurden, kommen auf unterster Ebene als Gemeinschaft zusammen und agieren in solidarischer Form. Sie lernen gemeinsam und nicht individualistisch zu diskutieren.
„Diese Formen erinnern uns an das, was wir teilweise als Kinder noch gelebt haben. Wir finden zu unserem eigentlichen Wesen zurück“ , wirft der Vater vom Lehrer Abdulselam ein, der uns zum Abendessen eingeladen hat. Er dürfte etwa 60 Jahre alt sein und hatte seinen Sohn eher spontan besucht. In aufgeregter Weise macht er weiter: „Das was die Kommune macht, kommt den Alten bekannt vor und das ist schön. So langsam verstehen wir, welchen Sinn die Kommune macht und was wir alles in den letzten 40 Jahre verloren haben.“
Die Kommune besorgt auch Generatoren, mit denen Strom für die Haushalte (meistens abends zwischen 16 und 22 Uhr) bereitgestellt wird. Denn die Leitungen können nur etwa 3 Stunden Strom den Haushalten geben. Anstatt dass sich 1–3 Haushalte mit einem eigenen Generator versorgen und damit den Geräuschpegel in den Straßen durchgehend gehoben wird und eben individuell agiert (die Ärmsten können nicht mal dies sich leisten), wird es durch die Kommune gemeinsam getan. Der Diesel für die Generatoren wird von der öffentlichen Einrichtung, die für die Rohölaufbereitung zuständig ist, relativ günstig eingekauft.
Selbst wenn die Kommune keine Kooperative aufgebaut hat, agiert sie wie eine Kooperative in Sachen Einkauf und Deckung von Bedürfnissen. Kommunen schauen genau nach, wie sie in solidarischer Form ihre Bedürfnisse am effektivste und günstigsten decken können und gleichzeitig die ärmsten unter sich unterstützen können. Letzteres kurzfristig mit Unterstützung von Grundbedürfnissen, mittelfristig durch die Einbindung in produktive Verhältnisse, wozu vor allem Kooperativen dienen.
Kommunen, die keine Kooperativen gegründet haben oder aus denen noch keine Menschen in Kooperativen arbeiten, werden durch diese solidarische Praxis für solidarische Wirtschaftsstrukturen de facto wie Kooperativen vorbereitet.
Die Gesundheitsbewegung von Rojava hat sich zur Aufgabe gemacht, in jeder Kommune mindestens zwei Menschen zur grundlegenden Gesundheitsversorgung auszubilden. Sie sollen die weniger schweren Fälle von Krankheiten und Verletzungen behandeln können. Dazu dienen auch Gesundheitsstationen in den Stadtteilen, auf die sie zurückgreifen können.
„Wissen im Gesundheitsbereich soll nicht auf wenige Personen begrenzt sein. Wissen muss soweit wie möglich vergesellschaftet werden, dies stärkt die Demokratie und Selbstversorgung der Bevölkerung.“ Auch in den von uns besuchten drei Kommunen gibt es die Personen, die sich zurzeit ausbilden lassen. Das erzählen die AktivistInnen mit großem Stolz. Denn ab jetzt wird es direkt Menschen in ihrem Lebensumfeld geben, die grundlegende gesundheitliche Anliegen behandeln kann. Nicht für alles müssen die Menschen zum Arzt laufen, die Ausgebildeten können behandeln und notwendige Medikamente von den Gesundheitsstationen holen.
Zurzeit erhalten zehntausende Menschen aus den Kommunen eine militärische Grundausbildung gegen Gefahren von terroristischen und anderen Strukturen. Damit sind Angriffe vor allem von IS, Al-Nusra und dem türkischen und syrischen Regime gemeint. Jederzeit können schlafende Zellen in den Städten von Rojava mit Bomben zuschlagen oder im offenen Kriegsfall kann es Angriffe von gegnerischen Einheiten gegen die Zivilbevölkerung geben. Die Bevölkerung soll lernen, sich selbst angemessen zu verteidigen, ohne auf die YPG/YPJ (die Volks- bzw. Frauenverteidigungseinheiten) zu warten. Diese Strukturen werden Zivile Verteidigungskräfte (HPC) genannt.
Auch Konfliktlösung wurde kommunalisiert.
Die Friedenskomitees werden von der Stadtteilebene immer in die Kommunen getragen. Diese Komitees dienen der Konfliktlösung auf unterster Ebene. In den letzten zwei Jahren wurde darauf Wert gelegt, dass auch Kommunen solche Komitees aufbauen. Wenn nicht in jeder Kommune, so doch ein Komitee für zwei oder drei benachbarte Kommunen.
In weiteren Bereichen sind die Kommunen auch immer stärker aktiv. So zum Beispiel bieten die Koordinationen der Kommunen immer bessere Angebote von Kultureinrichtungen den Eltern an, so dass ihre Kinder die Kulturzentren, die in jeder Stadt aufgebaut wurden, regelmäßig besuchen. Hier werden Kurse zu Musik, Gesang, Tanz, Theater etc. angeboten. Diese Arbeit ist insofern wichtig, als dass die KurdInnen und andere kulturelle Gruppen über die vielen Jahrzehnte assimiliert wurden und sie den Bedarf haben, ihre Kultur frei ausleben und weiterentwickeln zu können.
Kurz gesagt: In den letzten zwei Jahren hat sich viel getan in Rojava. Die Kommunen werden immer mehr zum Zentrum des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In Zusammenarbeit mit den verschiedenen Einrichtungen und Bewegungen in Rojava werden sie gezielt gestärkt, in dem sie an die breite Bevölkerung vor allem über die Kommunenstruktur herantreten.
Noch ist viel zu tun, denn die Revolutionäre sind noch relativ am Anfang. Sie diskutieren und probieren viel aus. Die Widersprüche zwischen Menschen, Gemeinschaft und sozialen Gruppen bestehen nach wie vor, einige sind abgeschwächt und neue sind aufgetaucht.
Enzan Munzur ist ein Internationalist aus Europa. Seit vielen Jahren kennt er die kurdische Freiheitsbewegung und arbeitet in verschiedenen Projekten mit ihr zusammen. Momentan hält er sich in Rojava auf.