QENDÎL – Das PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê – Arbeiterpartei Kurdistans) Exekutivratsmitglied Murat Karayılan hat eine eindringliche Einschätzung über den anhaltenden türkischen Staatsterror und den Widerstand der Völker in Bakûr (Nordkurdistan) gemacht.
Den seit nunmehr über einen Monat kämpfenden Widerstand der Völker in Cizîr (türk. Cizre) und Sûr (türk. Sur) grüßend, versprach Karayilan, dass die Täter dieser Massaker an kurdischen Frauen, Kindern und Jugendlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Das Radio Dengê Kurdistan (Stimme Kurdistans) führte ein Interview mit dem PKK Exekutivratsmitglied Murat Karayılan.
Zusätzlich zur erschwerten Isolationshaft des Vorsitzenden Abdullah Öcalan, führt der türkische Staat mit allen Mitteln einen Krieg gegen die Völker Kurdistans. Wie bewerten Sie diese umfassende Aggression?
Die kurdische Freiheitsbewegung durchlebt einen sehr kritischen Prozess innerhalb des historischen Widerstandes gegen die umfassenden Angriffe des Feindes, der versucht unsere Völker zu unterwerfen. Dieser Krieg begann auf İmralı, wo das System der psychischen Folter verstärkt wurde. Erst kürzlich wurden zwei Mitinsassen von İmralı ohne jegliche Erklärung verlegt. Dies ist eine klarer Schritt gegen unseren Vorsitzenden, der trotz des psychischen Drucks und der Angriffe gemeinsam mit den anderen Inhaftierten eine klare und deutliche Positionierung einnimmt. Dies ist eine Botschaft an uns alle, wir alle sollten daraus lernen und eine entschlossene Haltung gegen die Angriffe des Feindes entwickeln und einnehmen. Als Völker Kurdistans und kurdische Freiheitsbewegung müssen wir diesen Kampf zu Ende bringen, wir sind bereits in der finalen Phase. In vielen Ländern und Kriegen bedeutete der Häuserkampf in den Städten das finale Stadium.
Der Widerstand, der in Sûr und Cizîr heute geleistet wird, hat eine unbestreitbare Bedeutung. Wir grüßen die gesamte kurdische Jugend, die einer tausende Jahre alten Gewaltherrschaft widerstehen. Die Menschen in Sûr und Cizîr führen diesen Widerstand bis heute. Der Staat mobilisiert all seine technischen und militärischen Möglichkeiten, einschließlich seiner polizeilichen und militärischen Spezialeinheiten, SAS Einheiten (Kampftaucher) und natürlich die Bordo Bereliler (Spezialkräfte). Der einzige Grund warum der Staat bisher keine Kampfflugzeuge eingesetzt hat, ist, weil er dadurch auch seine eigenen Kräfte in Gefahr bringen würde.
Der Widerstand dauert in Sûr nun mittlerweile 50. Tage und in Cizîr 39 Tage an. Dies allein ist schon ein Sieg über den türkischen Staat und das AKP-Regime personifiziert durch Erdoğan. Man kann sehen, dass allein 2-3 Städte den türkischen Staat aufhalten können. Was würde wohl passieren, wenn 20 Städte dies gemeinsam tun würden? Die Völker Kurdistans und die demokratischen Kräfte der Türkei haben gesehen, dass der Tyrannenstaat gestoppt werden und dass der Widerstand das faschistische System niederschlagen kann. Diejenigen, die sich in Sûr und Cizîr widersetzen, sind Kämpfer_innen der Freiheit und Demokratie, sie erringen einen Sieg über die Festung der Gewaltherrschaft.
Der Feind begegnet dem Problem taktisch, er belagert die Orte des Widerstandes, um den Nachschub an Munition für die Militanten zu stoppen, die Menschen zum Hunger zu zwingen und sie somit zur Flucht aus den selbst verwalteten Gebieten zu zwingen. Aus diesem Grund zerstört er in seinem blinden Hass alles was er kann. Angesichts dieser Wahrheit ist es unumgänglich diese Angriffe zu vereiteln und den Widerstand zum Siege zu führen. Alle Dörfer und Städte in Kurdistan sollten eine Haltung gegenüber der Lage auf İmralı einnehmen. Das Leitbild des Staates ist: „Wir werden die ganze Türkei schützen, indem wir Sûr und Cizîr einnehmen“. Das ist leider wahr, da nicht nur der türkische Staat, sondern auch die AKP-Regierung in ihrem eigenen Sumpf gefangen sind, und sie versuchen sich auf jegliche Weise daraus zu befreien. Erdoğan hat sein wahres Gesicht als Tyrann, Rassist und gewalttätiger Mensch gezeigt. Anders gesagt, ist die Wahrheit über die AKP nun endlich ans Tageslicht gekommen. Der Widerstand der Völker Kurdistans hat diese Wahrheit nicht nur offenbart, sondern zeigt nun auch den Ausweg und die Lösung.
Kürzlich wurde eine Gruppe von Menschen, einschließlich eines Abgeordneten und Ko-Bürgermeisters angegriffen, während sie Leichname in Cizîr bargen. Einige starben dabei und viele andere wurden verwundet. Was sagen Sie zu dieser barbarischen Tat?
Wir haben auch davon gehört und Videos von dem Geschehen gesehen, die wortwörtlich herzzerreißend sind. Wir können nicht so tun als wäre nichts, wenn wir Bilder wie aus den Straßen Cizîr’s sehen. Eine Gruppe Menschen, einschließlich Abgeordneter, eines Ko-Bürgermeisters und Parlamentsabgeordneten wird beschossen, weil sie die Leichname bergen wollen, eine Handlung die durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte legitimiert wurde. Aber der türkische Staat hat keine Gesetze, keine Moral, keine Ehre oder Menschlichkeit. Er wird den europäischen Gesetzen und Konventionen keine Aufmerksamkeit schenken. Wir werden sehen wie das EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) darauf reagiert. Entweder es sieht die Gräueltaten der AKP in Kurdistan oder es will sie nicht sehen.
Wir schreiben das Jahr 2016, Städte sind umstellt von Panzern und Artillerie und werden bombardiert. Staatskräfte beschießen und zerstören wahllos Häuser, egal wer sich darin befindet. Sie schenken den Opfern, die sie hinterlassen keine Beachtung. Städte werden Tag und Nacht zerstört. In welchem Staat, in welchem Land passiert so etwas? Sieht Europa all dies nicht? Natürlich tut es das, aber vielleicht will es dies alles gar nicht sehen. Sie begehen dort eine Barbarei und führen einen staatlichen Krieg gegen die Menschen. Lassen sie mich etwas wiederholen: Es gibt keine professionellen Guerillakräfte in den selbst verwalteten Gebieten, nur die von den Menschen selbst vor kurzem gegründeten YPS/YPS-Jin (Yekîneyên Parastina Sivîl – Zivilverteidigungseinheiten / Yekîneyên Parastina Sivîl-Jin – Zivile Frauenverteidigungseinheiten). Und selbst diese Einheiten waren nicht in dem Bereich, wo die kurdischen Politiker_innen in Cizîr erschossen wurden. Sie waren alle unbewaffnete Bürger_innen, die von der türkischen Nachrichtenagentur AA später als „Terroristen“ diffamiert wurden. Ihre Lügen haben keine Grenze.
Die Grenzen der Toleranz sind bereits überschritten. Erdoğan war nach den Wahlen am 1. November davon überzeugt, dass türkische und chauvinistische Stimmen ihn an der Macht halten werden, so lange er einen Krieg gegen die Völker Kurdistans führt. Er selbst hat weder Gnade, noch ein Gewissen. Nun entfernen und zerstören seine Gräueltaten jegliche Grundlage für eine Ko-Existenz der Menschen aus Kurdistan und der Türkei. Wie sollen die Völker Kurdistans nach alledem mit ihnen leben? Der Staat will durch Panzer und Artillerie die Gehorsamkeit der Menschen erzwingen. Wie sollten das die Menschen und die Jugend akzeptieren? Wir würden uns selbst belügen. Die Verantwortlichen dieser Gräueltaten nehmen daher selbst die Integrität der Türkei ins Visier. Erdoğan’s Handeln treibt das Land in eine Ecke und er selbst wird die Folgen dafür tragen müssen, auf die das Ganze hinausläuft. Er wird zur Rechenschaft gezogen werden. So viele Kinder, Frauen und Mütter wurden zu Märtyrerinnen. Will er einfach so damit davonkommen? Nein, das verspreche ich. Er wird die Rechnung für all diese Taten zahlen, die er begeht. Der Krieg zwischen uns und dem türkischen Staat dauert seit Jahrzehnten, aber er hat nie eine solche Zerstörung wie in den letzten Monate erzeugt. Der türkische Staat erzeugt eine enorme Verwüstung und zieht dazu all seine Kräfte zusammen gegen unser Völker. Das Ereignis in Cizîr bezeugt eben diesen Krieg des Staates gegen die Menschen. Staatskräfte haben die Menschen mit scharfer Munition beschossen, obwohl sie ganz genau wussten, dass es Zivilist_innen waren. Der türkische Staat will diese Gräueltaten zu einem Ende führen, indem er auf unsere Leute und ihre politischen Vertreter_innen zielt.
Was würden sie gerne zum Abschluss sagen?
Was in dieser Zeit von großer Bedeutung ist, ist, dass jede_r Verantwortung übernehmen muss, ohne zu zögern, ohne einen bremsenden inneren Konflikt. Der Abgeordnete aus Botan, Faysal Sarıyıldaz fragte in einem Fernsehinterview was er noch von Cizîr aus tun soll: „Wir rufen jeden Tag um Hilfe und Unterstützung, aber nichts passiert, wir werden hier Tag für Tag umgebracht. Wir können nicht mehr um Hilfe und Solidarität bitten“. Jede_r muss die Rufe und Schreie aus Cizîr hören. Wir sind nicht in den 1930er oder 40er Jahren. Wir sind im Zeitalter der Kommunikation, indem die Welt so klein wie ein Dorf geworden ist und der Einfluss der Medien täglich wächst. Es ist nicht nur die Pflicht der Kurd_innen, sondern auch der Demokrat_innen und der türkischen Linken die Öffentlichkeit zu informieren und zu mobilisieren, die sogar dazu fähig ist den größten Tyrannen zu stoppen. Abgesehen davon, wenn alle Kurd_innen die Rufe aus Cizîr hören und überall in Aktion treten, dann würde alleine das schon reichen, um die AKP zu stoppen. Ich kann nicht verstehen, wie Kurd_innen in türkischen Städten, die sich zum Teil selber Demokrat_innen oder Patriot_innen nennen, die Angriffe auf und die Morde an unseren Völkern jeden Tag beobachten können, die verwundeten Jugendlichen, denen der Zugang zum Krankenhaus verwehrt wird und die in Folge darauf sterben. Auf was wartet ihr, dass unsere Städte bis auf den letzten Stein zerstört und niedergebrannt sind?
Dies ist der Grund, warum die Menschen aus Cizîr das Recht haben zu sagen: „Wir bitten nicht mehr um Hilfe und Unterstützung“. Es ist die Zeit der Ehre und Würde, die Zeit des Handelns, aber nicht nur mit Wörtern und Anmerkungen. Alle müssen tun was sie können. Wenn die Völker Kurdistans innerhalb und außerhalb der Türkei und Nordkurdistan, in allen vier Teilen Kurdistan in Aktion treten, können sie alles schaffen. Unsere Befreiung liegt mehr den je in unseren eigenen Händen. Jede_r sollte daher auf die Rufe und Schreie aus den Städten des Widerstandes reagieren, Verantwortung übernehmen und sich bewusst werden, dass wir uns in einem außergewöhnlichen und kritischen Prozess stecken. Das würde wirklich helfen die Gewaltherrschaft zum Zusammenbruch zu und die Demokratie und Freiheit zum Triumph zu führen. Unsere Entschlossenheit und unser Vertrauen sind stärker als jemals zu vor.
ANF, 23.01.2016, ISKU