Teil I.
Kurdish Question
Der Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP – Halkların Demokratik Partisi) für Şirnex (türk. Şırnak), Faysal Sarıyıldız war innerhalb der letzten zwei Monate die einzige Informationsquelle aus dem belagerten Stadtteil von Cizîr (türk. Cizre). Er informierte die Öffentlichkeit durch Soziale Medien und rief mehrfach internationale Organisationen auf die Belagerung von Cizîr zu stoppen und somit ein Massaker an den Zivilist_innen zu verhindern.
Sarıyıldız wurde bereits 2011 als Kandidat der Partei für Frieden und Demokratie (BDP – Barış Demokrasi Partisi), aus der die HDP hervorging, ins Parlament gewählt, zu dieser Zeit saß er wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ in Haft. Er wurde 2009 im Zuge der KCK (Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) Operationen verhaftet und 2014 entlassen, ohne Bewährung oder jemals verurteilt worden zu sein. Bei den Wahlen 2015 wurde er dann erneut ins Parlament gewählt, diesmal für die HDP.
Kurdish Question (KQ) hatte die Möglichkeit nach den Massakern in den Gebäuden und Kellern von Cizîr ein Interview mit Faysal Sarıyıldız zu führen, um ein klareres, unzensiertes und unmittelbares Bild von der Situation in Cizîr zu erhalten.
Wo befinden sie sich zur Zeit Herr Sarıyıldız?
Ich bin immer noch in Cizîr, in der Provinz Şirnex, wo seit über 62 Tagen eine Ausgangssperre auf allgemeine Anordnung der AKP Regierung besteht, die durch die direkte Entscheidung des Gouverneurs von Şirnex umgesetzt wird.
In welchen Vierteln finden die Operationen und Belagerungen statt?
Die Operationen und Belagerung sind nicht auf einzelne Viertel oder Stadtteile beschränkt. Die Belagerung umfasst jede Ecke des Stadtzentrums. Dennoch sind die Viertel Nur, Cudi, Sur und Yafes am stärksten betroffen, sie stehen unter schweren Angriffen und starker Belagerung.
Wie ist die aktuelle Situation der Menschen, die in diesen Stadtteilen leben?
Laut der letzten Volkszählung, lebten 2015 erfasste 131.816 Menschen in Cizîr. In den vier genannten Vierteln lebten 2/3 dieser Menschen. Aufgrund der verheerenden und extra-legalen Angriffe des Staates auf die Bewohner_innen der Viertel Cudi, Nur und Sur, sind diese Stadtteile vollends verlassen, auch im Viertel Yafes ist bereits mehr als die Hälfte der Bewohner_innen zur Flucht gezwungen worden. Dabei beschränkt sich die Entvölkerungspolitik des Staates nicht nur auf ein paar Stadtteile, sondern weitet sich auch auf die Viertel auf, die bisher noch nicht im Fokus standen. Mittlerweile müssen wir von über 100.000 vertriebenen Menschen sprechen.
Cizîr steht seit mehr als 2 Monaten unter Belagerung, wovon ernähren sich die Menschen oder verkürzt, wie leben sie?
Die Menschen haben sich bisher von ihren Vorräten versorgt. Die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen in den Nachbarschaften, Vierteln und ganz Cizîr sind sehr stark. Unter den Menschen besteht eine kollektive Solidarität, da sie die gleiche politische Identität teilen. Dennoch ist die Situation nicht einfach, vor allem auch auf Grund der Dauer der Belagerung. Beispielsweise erlaubt der Staat nur einer handvoll Geschäften an bestimmten Tagen wieder zu öffnen, aber nur die Menschen, die in der Nähe der Geschäfte wohnen können darauf überhaupt zurückgreifen. Diejenigen, die in ferneren Vierteln leben, die unter schweren Angriffen liegen, haben keine Möglichkeit lebensnotwendige Einkäufe zu machen. Hinaus zu gehen, um Brot zu kaufen, kann bedeuten erschossen zu werden oder von einer Mörsergranate getroffen zu werden, also kurz gesagt, zu sterben. Der Preis auf die Straße zu gehen, ist der Tod. Außerdem verhindert die Polizei auch trotz Erlaubnis immer wieder die Öffnung der Geschäfte.
Zusätzlich zu den Maßnahmen innerhalb der Stadt, verhindern Polizei und Militär auch Hilfslieferungen, die aus dem ganzen Land nach Cizîr geschickt werden. Dutzenden LKWs mit Lebensmitteln, Kleidung und Medizin wird die Zufahrt in die Kommune untersagt.
Auch die Infrastruktur der Stadt wurde durch die massiven Angriffe zerstört. Die Regierungstruppen haben frühzeitig Wasser- und Abwassersystem, sowie das Stromnetz außer Kraft gesetzt. Es gab tagelang kein Wasser. Ein Arbeiter der Stadtverwaltung wollte die beschädigten Wassertanks reparieren und wurde dabei von türkischen Einheiten in den Arm geschossen, er musste amputiert werden.
Wollten die Menschen, dass du Hilfe forderst? Was wollen die Menschen?
Eine Forderung die während der Belagerung durchweg verlangt wurde, ist, dass die Leichname und die Verwundeten ins Krankenhaus gebracht werden können. Eine weitere Forderung war die Hilfe für die Menschen, die in den Gebäuden und Kellern eingeschlossen waren, die im Sterben lagen und deren Häuser niedergebrannt wurden. Dies ist auch der Grund dafür, warum der Staat sämtliche Kommunikation zwischen den verschiedenen Institutionen und den Menschen unterbunden hat, es gibt keinen Raum für einen Dialog. Die Stadtverwaltungen sind aufgrund der Belagerungen und Ausgangssperren nicht im Stande den Menschen zu helfen.
Die Menschen denken ich könnte ihre Anliegen befriedigen, weil ich ein Parlamentsabgeordneter bin. Ob es nun an meiner oppositionellen Einstellung oder an der politischen Linie liegt, die ich vertrete, so oder so wird mir keine Beachtung geschenkt. Leichname und Verwundete liegen trotz wiederholter Aufrufe und Bitten, sie bergen zu können, seit Tagen auf den Straßen. Solche Aufrufe und Forderungen würden größte Aufmerksamkeit und Bedeutung in Ländern bekommen, in denen eine starke Demokratie, Justiz und Gesetzgebung existiert. Das essenziellste menschliche Bedürfnis wird in der Türkei von einer antidemokratischen und totalitären Regierung verweigert.
Wohin gehen die Menschen, die aus Cizîr vertrieben wurden? Haben Sie Informationen über ihren Verbleib und ihre aktuelle Situation?
Menschen mussten ihre Häuser und ihren Lebensraum aufgrund der anhaltenden schweren Angriffe durch die türkischen Truppen verlassen. Wenn Kurd_innen von Verwüstung und Unheil sprechen, nennen sie Kobanê und Sinjar als Beispiele dafür. Zweidrittel der Stadt Cizîr weisen mittlerwele jedoch keinen Unterschied mehr zu Kobanê und Sinjar auf. Häuser sind nur noch Trümmerhaufen. Es gibt kaum Häuser, die nicht von Panzern oder Mörsern getroffen und beschädigt worden sind. Dies ist eine bewusste Politik, um die Menschen zu vertreiben. Die türkischen Truppen attackieren das Recht auf Leben.
Im Laufe des ersten Monats der Belagerung kam es in Cizîr zu einer internen Migration der Menschen. Die staatlichen Angriffe konzentrierten sich auf die Viertel Cudi, Nur, Yafes und Sur. Die Menschen aus den vier am schwersten betroffenen Vierteln migrierten darauf hin in das Stadtzentrum und die angrenzenden Stadtteile, wo weniger Angriffe geführt wurden. Einige Menschen gingen zu Verwandten, andere wurden von der Bevölkerung aufgenommen. Als die staatlichen Angriffe dann auch diese Viertel ins Visier nahmen, flüchteten die Menschen erneut, diesmal in naheliegende Dörfer, nach Şirnex-Stadt, Hezex (türk. Idil), Amed (türk. Diyarbakır) und auch in türkische Städte. In den 1990er Jahren bewirkten die Angriffe der türkischen Regierung, dass die Kurd_innen aus den ländlichen Gebieten in die Städte migrierten, nun ist es eher umgekehrt, da die türkische Regierung ihre Angriffe auf die kurdischen Städte konzentriert.
Warum attackiert der Staat gerade Cizîr so hart?
Wenn man die historische und politische Rolle von Cizîr betrachtet, sieht man, dass diese Stadt eine hohe symbolische Bedeutung sowohl für den türkischen Staat, als auch für die Völker Kurdistans hat. Um verstehen zu könne, warum der Staat gerade hier die längste Belagerung und Ausgangssperre angeordnet hat und mit geplanter Brutalität vorgeht, durch die Menschen daran gehindert werden ihre Liebsten zu bergen oder Menschen bei lebendigem Leib verbrannt werden, muss die Geschichte des Widerstandes von Cizîr betrachtet werden.
Cizîr war in den 90er Jahren durchweg der Ort der größten Tyrannei und Unterdrückung. Die Ereignisse auf der Newroz (kurdisches Neujahr) Feier 1992 sind noch frisch in unserer Erinnerung. Beim Versuch des türkischen Militärs die Newroz Feierlichkeiten zu verhindern wurden über 100 Zivilist_innen niedergeschossen und hunderte Andere bei den Angriffen verwundet. Im selben Jahr wurden täglich Dörfer bis auf die Grundmauern zerstört, Migration und Flucht erzwungen, extra-legale Hinrichtungen verübt und Massengräber geschaffen, auch schon bereits vor Cizîr. Der türkische Staat beschnitt grundlegende Menschenrechte und Freiheit wurde ein Luxus für die Menschen in diesem Gebiet.
Trotz all der Gewalt und Unterdrückung, sowohl damals, als auch heute, die Menschen von Cizîr machen keine Eingeständnisse und beugen sich nicht. Cizîr fordert Freiheit und Gleichheit, der Widerstand dieser Stadt gegen die türkische Staatspolitik der Verleugnung und Assimilation ist bis heute ungebrochen. Im Sinne der staatlichen Assimilationspolitik hat Cizîr sich erfolgreich der „Türkisierung“ widersetzt und ihre authentische und unabhängige kulturelle und politische Identität bewahrt. Deshalb war diese Stadt immer im Visier derer, die an der Macht waren und sind. Im Jahr 1847 war Cizîr das Herz der Rebellion gegen das Osmanische Reich und wurde 1990 zum Symbol des Widerstandes der Völker Kurdistans.
Daher glaubt der Staat durch die Liquidation der Stadt Cizîr, als ein Zentrum des Widerstandes, seine Macht in den anderen Städten Kurdistans ausweiten und festigen zu können. Ich bin jedoch der Meinung, dass die Barbarei des Staates in Cizîr während der Belagerung so tief ins kollektive Gedächtnis der Menschen gebrannt wurde, dass daraus eine organisierte Reaktion und Wut hervorgeht. Die Menschen hier wurden in ein unmenschliches und tyrannisches Experiment gezwungen, das von Generation zu Generation fortgesetzt wird.
Welche Bedeutung haben die Barrikaden und Gräben?
Sie bedeuten eine Form von Selbstverteidigung gegen die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik des Staates. Natürlich sind die Menschen nicht glücklich darüber hinter Barrikaden und Gräben leben zu müssen, mitten zwischen den Gefechten, ihre Häuser verlassen und täglich ihre Geliebten bergen und retten zu müssen. Es gibt Bestrebungen, die Kurd_innen wie Sklav_innen zu halten. Die Menschen hinter den Barrikaden und Gräben erheben sich dagegen. Die Mehrheit von ihnen wurde vom Staat diskriminiert, unterdrückt, inhaftiert und gefoltert, jede_r verlor eine_n Verwandte_n im Krieg oder das eigene Dorf wurde niedergebrannt. Niemand traut diesem Staat. Ich weiß dies, weil ich letztes Jahr bei Treffen mit der Jugend dabei war, als die Friedensgespräche (zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Freiheitsbewegung) noch liefen und die Gräben und Barrikaden zurück gebaut wurden. Sie hörten auf Abudllah Öcalans Aufruf und taten dies. Dennoch erschossen türkische Einheiten noch am selben Tag aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus ein Kind, Nihat Kazanhan. Es war das Vorgehen des Staates, dass Cizîr dazu zwang Gräben zu graben und Barrikaden zu errichten.
Fortsetzung folgt …
Kurdish Question, 13.02.2016, ISKU