Bakur/Nordkurdistan – Es gibt eine weitere Zeugin des Massakers von Cizîr (Cizre). Nachdem im Dezember 2015 die Ausgangssperre über Cizîr, einem Landkreis von Şirnex (Şırnak), verhängt worden war, begann auch die Blockade durch türkisches Militär und Spezialeinheiten. Hunderte Einwohner von Cizîr wurden während der Monate lang anhaltenden Ausgangssperre getötet und verletzt. Die Militäroperation gipfelte in Massakern in drei Gebäuden, in dessen Kellerräume duzende z.T. auch verletzte Zivilist*innen sich vor der Bombardierung ihrer Stadtviertel durch türkisches Militär geflüchtet hatten.
Wie jetzt bekannt wurde, gibt es eine weitere Zeugin des Massakers. Es handelt sich bei ihr um eine 22-jährige Frau. Sie ist Augenzeugin des Massakers des 3. Kellers. Dieser lag im Stadtteil Sûr von Cizîr. In dem betreffenden Gebäude hatten 45 Menschen Schutz gesucht. Die meisten von ihnen waren verletzt. Das Gebäude wurde von der türkischen Armee mit Panzern beschossen, wodurch das obere Stockwerk des Gebäudes zerstört wurde. Am ersten Tag des Angriffs leiteten staatliche Kräfte Benzin in einen Teil des Kellers und entzündeten es. 20 Verletzte konnten sich nicht in Sicherheit bringen und verbrannten dort. Die verbliebenen 25 Menschen warteten, bedroht davon, jede Minute ermordet zu werden, tagelang auf ihr Rettung. Trotz großen Bemühens einiger Abgeordneter der Demokratischen Partei der Völker HDP, alles für ihre Rettung nur mögliche zu tun, setzte der türkische Staat sein Vorhaben um und richtete ein weiteres Massaker an den in dem Gebäude verbliebenen Menschen an.
Die Zeugin erklärte, dass auch Orhan Tunç sich bei ihnen befand. Das wenige Essen war schnell aufgebraucht. Alle seien Zivilist*innen gewesen, Studierende von der Uni und auch Aktivist*innen. „Wir waren seit einer Woche hungrig und durstig. Es gab Wasser in der Nähe. Sie hatten es zerstört, aber die Quelle lag zwei Häuser weiter. Wenn die Wärmebildkamera nicht an war, konnten wir hingehen und Wasser holen. Wir trugen das Wasser in kleinen Plastikkanistern. Es gab keinen Proviant. Wir versuchten, woanders etwas zu finden. Als letztes verblieb nur noch das Gebäude, in dem wir Zuflucht gesucht hatten. Die Lage der Verletzten war sehr schlecht. Wir hatten ein wenig Mullbinden und Jod-Tinktur. Unsere Kopftücher, alles was wir nur finden konnten, benutzten wir zur Versorgung der Verletzten. Es war kalt. Auf der Straße Verletzte konnten wegen der Blockade durch den Staat nicht abgeholt werden, andere kamen noch dazu, so die Zeugin.“
Zu den Ereignissen am Tage des Massakers sagte sie: „ Am Mittwoch sind im 3. Keller die Freund*innen verbrannt worden. Wir konnten nicht in den Keller runter. Wir hatten schon alle Hoffnung verloren, sie konnten nicht aus dem Keller hoch kommen. Die Kräfte des türkischen Staates schütten Benzin in den Keller und entzündeten es. Mittwoch gegen 7-8 Uhr waren die Schutzgräben beseitigt worden. Die Soldaten standen genau vor dem Keller, sie warfen Feuergeschosse in den Keller, schossen mit schweren Maschinengewehren. Wir wünschten uns, dass Orhan Tunç gerettet würde, weil er ein 15 Tage altes Baby hatte. Wir wünschten, dass er gerettet würde, auch wenn wir sterben sollten. Weil die Freund*innen verletzt waren, konnten sie nicht intervenieren.
Nach dem Brand warfen sie etwa 10 Gasgranaten hinein. Wir hörten nur die Geräusche, sobald wir den Kopf hoben, schossen sie.“
Die Zeugin erklärte, dass die Soldaten während des Angriffs ihre Fahrzeuge nicht verlassen hätten: „Am Abend so gegen 20/21 Uhr kamen 6 Personen in das Stockwerk hoch, in dem wir waren. Jetzt waren wir insgesamt 25 Personen. Wir waren alles Zivilist*innen. Einer war Adil Kücük, er hat ein Kind und auch der 14-jährige Mesut war hier. Von 25 Personen waren 20 verletzt. Die Verletzung von Derya Koç war nicht schwer. Der Jüngste unter uns war 14 Jahre alt. Er hatte Angst, es gab keinen Dialog, wir konnten nicht sprechen. Wir waren Tag und Nacht sehr still, da die Soldaten sehr nah waren. Wir sagten uns, dass die verbliebenen 25 Menschen zumindest gerettet werden sollten. Gegen Abend sollte ein Rettungswagen kommen. Wir erklärte den Sanitätern des Rettungswagens unsere Situation. Trotz der Angst vor Folter, Gefängnis, Liquidierung riefen wir an, um am Leben zu bleiben. Ungefähr 10 mal haben wir den Rettungswagen angerufen. ‚Nennt die Adresse, wir kommen‘, sagten sie. 10–11 mal riefen wir an, erneut sagten sie, das sie kämen. Dann sahen wir, dass wir von Spezialeinsatzkräften umzingelt worden waren.“
Am Abend kam dann der Rettungswagen. Aus dem Wagen erfolgte der Aufruf, dass wir uns ergeben sollen. Wir erklärten, dass wir kommen werden, wir aber, wenn das Feuer auf uns eröffnet würde, sofort umkehren werden. Die staatlichen Kräfte eröffneten dann das Feuer auf uns. Einer von uns verlor sein Leben.
Morgens um 6 Uhr riefen wir wieder den Rettungswagen an. Um 7 Uhr kamen die Soldaten und umzingelten uns komplett. Sie führten zwei gepanzerte Fahrzeuge mit sich. Eins stellten sie vor dem Bauplatz ab, möglicherweise stand eins auch auf der Rückseite des Gebäudes. Im Gebäude neben uns nahmen sie Stellung. Sie riefen zu uns rüber, dass wir uns ergeben sollen. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten. Wir riefen den Soldaten zu: „Orhan Tunç ist bei uns, er hat ein kleines Kind. Emel Ayhan war an unserer Seite. Er war 20 Jahre alt. Seine Haare waren komplett versengt, aber sein Körper war unverletzt. Da erfolgte ein erneuter Angriff auf uns. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich während des Angriffs den Ort, zu dem ich flüchtete, erreicht habe.“
Die Zeugin berichtet, dass sie sich in dem Moment in den Keller einer Moschee geflüchtet hatte: „Es gab einen kleinen Garten, dort habe ich den Kontakt zu den anderen verloren. Ich ging in den Keller der Moschee. Es gab dort ein Fahrrad ,Müll und Pappkartons. Ich zog mir einen Sack über, um mich zu verstecken. Es war ein großer Sack, gewebtes Plastik. Es war viel Müll dort. Es drang das Geräusch automatischer Waffen zu mir. Ich hörte wie die Soldaten sagten ‚Bringt die Kleidung‘. Im Nachhinein denke ich, dass sie damit die Bekleidung der nackt ausgezogen Freund*innen meinten. Ich hörte, wie sie sagten: ‚Binde die Bombe an seine Füße‘. Anschließend hörte ich das Geräusch einer explodierenden Bombe. Danach hörte ich Geräusche von denen ich annahm, dass sie vom Leichenwagen stammten. Soldaten und Spezialeinheiten sagten: ‚Lasst uns ein Selfi machen und dann die Leichen auf den Wagen heben.‘ Sie beschimpften einander. Sie schimpften sehr sexistisch. Ekelhaft war das. Sie verhöhnten auch unsere ermordeten Freund*innen. Sie sagten: ‚Cizîr ist jetzt gesäubert worden‘ und ähnliches. Sie sahen auch in den Keller in dem ich war. Ein Lichtstrahl fiel in meine Richtung. Mich sahen sie nicht.“
Die junge Frau erzählt: „Drei Tage lang habe ich den Sack nicht verlassen. Dann verließen die Soldaten den Ort. Das Geräusch der Fahrzeuge war zu hören. Ein Tag später drang der Lärm von Personenwagen zu mir. Ich setzte mich auf, öffnete meine Augen. Seit einer Woche war ich hungrig und durstig. Zu mir drangen die kurdischsprachigen Worte der Bevölkerung, die in das Viertel zurückkehrte. Nach dem Angriff auf den Keller gab es keine Schüsse mehr. Stimmen drangen aus der Ferne zu mir. Ich hörte die Lautsprecherdurchsagen des Militärs: ‚Die Ausgangssperre dauert an. Wer auf die Straße geht, muss mit unserer Intervention rechnen.‘ Es wurde Nacht, gegen 3 Uhr ging ich an den Ort, an dem das Massaker verübt worden war. Ich sagte mir, morgen werde ich jemanden erreichen und hier rauskommen. Ich hörte nur das Geräusch von Autos, tags zuvor hatte mich das Geräusch der Bevölkerung erreicht. Da begriff ich, dass alles in Ordnung war. In dem Keller war etwas Wasser, das sich gesammelt hatte, es war stark verschmutzt. Ich trank es. Ich ging wieder hinauf. Ging zu dem Ort, wo das Massaker geschah. Ich tat nichts dort. Ging auf die andere Seite der Tür. Wenn jemand kommen sollte, konnte ich ihn erreichen und auf die andere Seite kommen. Ich ging von oben wieder herunter. Dort sah ich eine Frau. Es war 7 Uhr. Ich erklärte ihr meine Lage, danach ging ich zu ihr nach Hause.“
BestaNûçe, 23.04.2016, ISKU