Der Deutschland gebornene Internationalist und Kommandant der Volksverteidigungseinheiten YPG Cihan Kendal hat im August 2016 der Internetseite „weareplanc.org “ ein Interview gegeben, das wir hier leicht gekürzt wiedergeben.
Die Revolution in Rojava begann 2012. Zeitgleich erleben wir in Europa den Aufstieg von Bewegungen wie Podemos, Syriza und Jeremy Corbyn, die sich gegen die Politik des sich enger schnallenden Gürtels wandten. Können Sie zwischen sich und diesen Parteien Ähnlichkeiten erkennen?
Weil auch wir Teil der antikapitalistischen Bewegungen sind, sind wir immer erfreut, wenn wir von Menschen aus ganz verschiedenen Kreisen auf der Welt hören, die das kapitalistische System kritisieren, eine Alternative zu entwickeln suchen und sich gegen die kapitalistische Moderne organisieren. Wir wünschen uns zu all diesen Bewegungen noch tiefere Beziehungen und hoffen, dass wir sehen werden, dass mit der Gründung der YPG-E sich parallel auch das entwickeln wird.
Aber wenn wir davon sprechen die Revolution vollbringen zu wollen ist offensichtlich, dass das mit den klassischen Parteien, die allein im Parlament aktiv sind, nichts wird. Das mag ein Teil der Bewegung sein, mag sogar ein wichtiger Teil der Bewegung sein, aber wenn es darum geht ein alternatives System zu entwickeln, kann man zwar innerhalb des Systems aktiv sein, aber allein das wird nicht ausreichen; das Wichtigste ist, wenn die Bevölkerung sich selbst zu organisieren beginnt, der Punkt, an dem es den Staat überwindet. Abdullah Öcalan hat dafür eine Formel: „Staat plus Demokratie“.
Staat plus Demokratie? Ist die Revolution in Rojava denn nicht gegen den Staat?
So wohl ja als auch nein. Ja, Assad haben wir aus Rojava hinausgeworfen, aber wenn wir die politischen, ökonomischen und militärischen Bedingungen berücksichtigen, sind wir auch so weit realistisch, dass uns klar ist, dass wir nicht alles so einfach abschneiden und wegwerfen können. Wir unterhalten auf einer gewissen Ebene Beziehungen zur Regierung von Syrien, gerade auch deshalb, weil wir selbst eben keinen anderen neuen Staat gründen wollen. Wir betonen immer, wir können nur dann Teil des syrischen Staates werden, wenn sie die demokratischen Rechte der Bevölkerung der Region achten, einer Bevölkerung, die sich selbst organisieren will, und die ein Teil darstellt, der alle anderen Teile des syrischen Staates verändern wird. Denn das ist das eigentliche Ziel, von einer autonomen Region aus zu einem demokratischen Syrien voranzuschreiten. (…)
Warum wirken sich Meldungen der Medien über die internationalen Freiwilligen nicht auf die Politik aus?
Die Medien ziehen es vor die Freiwilligen nicht als Menschen mit einer politischen Weltanschauung zu zeigen, dabei haben etliche einen klassisch radikalen Linken Background, Anarchischsten, Marxisten, jegliche Art undogmatischer Kommunisten mögen darunter sein. Zum Beispiel Jordan Matheson … Seine wirklichen politischen Ansichten haben sie nicht gebracht. Als er die USA wegen seiner Beziehungen zu seinem NATO Bündnispartner Türkei, der seine Armee nach Bakur (Nordkurdistan) schickt zu kritisieren begann, haben sie seine Stimme gedämpft. Und so denken die Leute er wäre lediglich ein Christ, der gekommen sei, um gegen den IS zu kämpfen. Die anderen, die in den Medien aufgetreten sind, haben über ihre politischen Ansichten nicht gesprochen, aber sie sind es, die eine der Grundlagen der YPG sind.
Wir sagen folgendes, wenn ihr ernstlich demokratische Werte, humanistische Werte habt, dann könnt ihr mit uns gemeinsam gegen den Feind kämpfen. Deshalb gibt es radikale Linke, aber gleichzeitig auch Umweltschützer, Feministen, Liberale, ja sogar Pazifisten unter uns, und all diese Menschen betrachten Rojava aus ihrem Blickwinkel heraus, einem Blickwinkel, der vom wirklichen Wesen der YPG durchaus abweichen mag. Aber wir möchten, dass es auch diesen Unterschied gibt. Wir möchten nicht kontrollieren was die Menschen denken oder sagen, deshalb konnten die Medien auch selbst wählen, wen sie präsentieren, und haben sich für jene entschieden, die ihnen im Rahmen ihrer eigenen Agenda am ungefährlichsten erschienen. Es soll so sein. Wir möchten das nicht kontrollieren, wir Vertrauen uns selbst, Vertrauen unserer Ideologie, und sind überzeugt, dass je mehr uns die Menschen kennenlernen, sie auch die Wahrheit erkennen werden. Aber wir möchten den Freiwilligen mehr als zuvor auch mittels Schulungen etwa vermitteln, deshalb wird in Zukunft mindestens ein Monat Schulung erfolgen, über die kurdische Sprache, die kurdische Geschichte, die kurdische Kultur gleichzeitig aber auch politischer und ideologischer Unterricht, auch über die Struktur der YPG und Rojava. Darüber hinaus wird die Frauenbewegung gesonderten Unterricht zu ihrer Ideologie und ihrer Organisierung haben.
Möchten Sie zu einigen Gerüchten Stellung nehmen, möchten Sie irgendeine Kritik an ihnen erwidern? Ist Rojava eine „PKK-Diktatur“?
Wer wirklich wissen will was in Rojava passiert, sollte nicht alles ungeprüft glauben, sondern sich anhören, was die Institutionen hier verlauten lassen, denn es gibt eine Menge Leute die uns in den Dreck ziehen wollen. Aber Rojava ist ganz sicher keine PKK-Diktatur, das kann jede und jeder, die oder der nach Rojava kommt, sofort erkennen. Die Revolution birgt so viele Widersprüche und Unterschiede in sich, dass man das ganz offensichtlich in keinster Weise als Diktatur bezeichnen kann. Mit der PKK gibt es keinerlei Verbindung; Öcalan ist philosophisch und ideologisch unser Wegweiser, aber die PKK selbst gibt es hier nicht, weder hat sie hier ein Büro noch verfügt sie hier über Kräfte. Sie sind die PKK, wir die YPG. Es gibt Kritiken von der Linken die mindestens genauso arg sind wie diese Gerüchte, wie zum Beispiel, dass wir über Polizeikräfte verfügen … Natürlich verfügen wir über Sicherheitskräfte, wie ließe sich ansonsten in der Gesellschaft Sicherheit herstellen? Aber neben den ersten Sicherheitskräften, den Asayiş, verfügen wir auch über die Kräfte zur Verteidigung der Gesellschaft (HPC). Sie setzen sich aus Zivilisten zusammen, diese erhalten eine Schulung, um die in den Gemeinschaften entstehenden Probleme, wie Zwist in der Familie u.Ä. lösen zu können, aber nicht in der Art von „Recht und Ordnung“, und ohne abzustrafen. Sie versuchen die Probleme zu lösen, sie produzieren keine neuerlichen Probleme indem sie die Menschen abstrafen und ins Gefängnis werfen. Sicher, es gibt auch Gefängnisse für die Verbrechen gegen die Gesellschaft. Wer genau hinsieht, kann das erkennen, das ist ja schließlich kein Geheimnis, aber sobald Menschen auf die Rhetorik die wir benutzen und auf unsere Ideen stoßen, gleitet es schnell ab in die Phantasie …
Letzten Monat wurden us-Soldaten mit dem Emblem der YPG abgelichtet. Das hat die Türkei verärgert, aber es hat auch viele in der Linken überall in der Welt verärgert die Amerika wegen der Zerstörung in Afghanistan, Libyen und Irak für das Aufkommen der IŞİD verantwortlich machen. Wie ist ihre Beziehung zu den USA?
Wenn Sie die offiziellen Verlautbarungen der verschiedenen Institutionen hier verfolgen, wie der PYD, TEV-DEM, der Frauenbewegung werden Sie erkennen, dass hier in Rojava sich jeder der Interessen der USA in Syrien bewusst ist. Wir alle wissen was die USA will und was nicht und kennen deren Verantwortung an Gruppen wie IS und al-Nusra. Über die Zerstörung des Irak hinausgehend spielten sie direkt eine Rolle bei der Entstehung dieser Gruppen, danach verloren sie die Kontrolle über sie, und jetzt versuchen sie das Problem zu lösen, das sie verursacht haben. Deshalb wollen sie, und das ist ganz natürlich, uns helfen. Ich wiederhole, unsere Beziehungen zu ihnen sind offen und offiziell – nicht geheim. Es handelt sich um eine taktische Beziehung, sie ist nicht strategisch. Sie wollen uns benutzen, und wir suchen davon in bester Weise zu profitieren. Das müssen wir tun, viele sind uns feindlich gesinnt, und wir wissen uns zu verteidigen. Bei einem Kräftegleichgewicht mit so großen Akteuren besteht die Notwendigkeit, dass wir für uns positionieren, sowohl parktisch als auch politisch. Denn in Syrien gibt es viele Interessen. Deshalb versuchen wir, die Interessen der Bevölkerung zu verteidigen. Mit „Nein“ sagen und gegen alle Feinde gleichzeitig ankämpfen ist das nicht zu leisten.
Natürlich sind die Hauptbündnispartner der USA in der Region die Türkei, Barzanîs Peşmerge und im Libanon die englische Armee und diverse Gruppen der FSA, die sie ausbilden. Die Türkei greift hier, greift in Bakur (Nordkurdistan) die Kurden an und unterstützt ganz offen den IS, die Peşmerge sind schlecht ausgebildet und unmotiviert, die YPG hingegen ist in der Region die wirkungsvollste Kraft gegen den IS. Nur deshalb unterstützt uns die USA, und ist gleichzeitig dazu gezwungen, uns wahrzunehmen. Indem wir eine starke militärische Position entwickelt haben, waren es eigentlich wir, die sie dazu genötigt haben mit uns zusammen zu arbeiten. Das hat uns in die Lage versetzt diese Revolution zu stärken, das ist eine Notwendigkeit. Die Revolution ist nicht etwas das mit Reden zu verteidigen ist, man ist schon dazu gezwungen der Bevölkerung etwas zu geben, man muß sie schützen, muß ihnen Nahrung sichern, Infrastruktur sichern, wenn man sich allen gegenüber isoliert wird man das nicht leisten können.
Die USA möchte uns zum Hauptbündnispartner machen, aber sie weis auch, daß das unmöglich ist, militärisch arbeiten wir von Zeit zu Zeit zusammen, aber ideologisch gesehen sind wir Feinde. Die USA ist der Vorreiter des kapitalistischen Systems und wir sind die Vorreiter eines alternativen Systems. Vielleicht nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber irgendwann werden wir gegen einander stehen …
YÖP, 14.10.2016, ISKU