Ab heute wird der Verfassungsentwurf der AKP zur Einführung des Präsidialregimes im türkischen Parlament behandelt und in den nächsten Tagen zur Abstimmung gebracht.
Die Türkei vollführt einen Regimewechsel, der de facto längst existiert und nun auch in der Verfassung verankert werden soll. Nach dem Putschversuch am 15. Juli wurde am 20. Juli 2016 der Ausnahmezustand (OHAL) über die Türkei verhängt. Noch in der Putschnacht bedankte sich Erdoğan für die „Gabe Gottes“; es sind nicht wenige die das Folgende als „Putsch im Putsch“ werten. Seit jenem Tag wird die Türkei mit Notstandsdekreten regiert. In der Folge wurden hunderte zivilgesellschaftliche Organisationen, Zeitungen, Verlage und TV-Sender verboten, 10 Tausende entlassen, Firmen, Konzerne beschlagnahmt, entweder aufgelöst oder unter einen Zwangsverwalter gestellt. Gleiches gilt für den politischen Bereich. Bürgermeister von Dutzenden Rathäusern der kurdischen Provinzen wurden verhaftet, an ihrer Stelle Zwangsverwalter, vorzugsweise Gouverneure, eingesetzt. Die Wirtschaft erlebt eine tiefe Krise. Der Tourismussektor ist eingebrochen und die Türkische Lira hat erheblich an Wert verloren. Außenpolitisch ist die Türkei isoliert und profitiert allein aus dem Zwist zwischen Russland und den USA. Auch ihr Intermezzo in Syrien resultiert letztlich daraus. Die Folgen ihres Krieges sind für den Nahen Osten und auch für die Welt hingegen unabsehbar. Nur eins nicht, weder sind sie Frieden stiftend, noch Stabilität bringend oder gar gegen den IS gerichtet. Sondern viel mehr werden es wieder die Kurden sein, die ihren Kopf dafür hinhalten sollen.
Nun soll mit der Verfassungsänderung dem angeknacksten parlamentarischem System in der Türkei der Todesstoß versetzt werden. So zumindest sehen es die Abgeordneten von CHP und HDP. Ihnen zu Folge „hat noch jedes Putschregime seine eigene Verfassung geschaffen“ (Bülent Tezcan-CHP). Dabei ist nicht zu vergessen, dass das parlamentarische System erheblich auch durch das zutun der CHP selbst demontiert wurde. Im Kampf gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei war sie lange bereit alle Beschlüsse mit zu tragen, die das parlamentarische System zusehendes schwächten und an Einfluss verlieren ließen. Zu nennen wären hier nur das umstrittene Gesetz zur Aufhebung der Immunitäten von Abgeordneten, aber auch die Verhängung des OHAL selbst.
Innerhalb der Parlamentsdebatte wiesen Abgeordnete der HDP darauf hin, dass „bei einer für die Türkei so historisch wichtigen Entscheidung“ elf ihrer Abgeordneten als Folge der Aufhebung ihrer Immunität, womit sie allerdings trotzdem Abgeordnete sind, als „Geisel“ im Gefängnis festgehalten werden und somit unrechtmäßig von der Abstimmung ferngehalten werden. Osman Baydemir, Abgeordneter der HDP, benannte die Inhaftierung der Kovorsitzenden seiner Partei, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, als den „ersten Anschlag gegen das Parlament“. Unerwähnt blieben zwei weitere Abgeordnete der HDP, Faysal Sarıyıldız und Tuğba Hezer. Beide sind aktuell in Europa, da sie direkt von Verhaftung bedroht sind. Sie können nicht nur nicht ins Parlament zu Abstimmung kommen, sondern, das zuletzt heraus gegebene Notstandsdekret macht es möglich, ihnen kann auch ihre Staatsbürgerschaft entzogen werden.
Wurde das Parlament in der Putschnacht vom 15. Juli noch gemeinsam von allen vier Parteien gerettet. Soll es heute und in den kommenden Tage mit den Stimmen von MHP und AKP seiner Funktion beraubt und in der Türkei ein Ein-Mann-Regime installiert werden …
ISKU, 09.01.2017