Die neusten Entwicklungen in Şengal erschüttern die Menschen in Rojava, Bakur und auch in Başûr, aber vor allem in Şengal selbst. Sie sind wütend, wieder einmal werden sie angegriffen. Diesmal nicht von DAESH (IS), diesmal schreit nicht die ganze Welt auf, diesmal ist es eine international anerkannte Armee, die die Gesellschaft angreift.
Die Êzid*innen haben viel gelitten. Nicht nur in den letzten Jahren, während und nach dem Genozid an hunderten von Menschen. Es war der 73. Genozid in der Geschichte der Êzid*innen.
Damals waren tausende Peşmerge im Şengal stationiert, als DAESH angriff sind sie geflohen und haben die Menschen sich selbst überlassen. Einzig einige wenige Kämpfer*innen der HPG und YPG sind geblieben und standen den Menschen zur Seite. Die internationale Empörung und das kollektive Mitfühlen waren in diesem Jahr allgegenwärtig. Aber was ist daraus geworden? Ein Gang durch Şengal zeigt in wenigen Bildern, wem es hier wirklich um die Menschen geht. Das französische Rote Kreuz (FRK) hat mehrere Mülltonnen geschickt, das Haus in dem das Büro des FRK ist wurde nie fertiggestellt. Es ist eine Bauruine, traurig und leer steht es da. Der deutsche Staat hat zusammen mit der Hilfsorganisation Barzanis Mission Middle East große Tafeln aufstellen lassen, die zeigen sollen: ja, auch wir haben geholfen. Mehr als die Tafeln sieht man davon aber nicht. Die Hilfsorganisation der KDP verschanzt sich hinter Zäunen und NATO-Draht.
Einzig die Menschen der in Deutschland und vielen anderen Ländern als terroristisch eingestuften PKK leben in Zelten mitten in der Gesellschaft und unterstützen sie, wo sie nur können. In Şengal bilden sich langsam Selbstverwaltungsstrukturen, wie in Rojava und auch vor dem Krieg in Bakur. Die Menschen in Şengal wollen sich endlich selbst verwalten und ihre Kraft nutzen, die sie haben. Als Antwort auf den Genozid haben sich Selbstverteidigungseinheiten gebildet, YBS und YBSJ sind seitdem im Aufbau. Zudem werden Räte gegründet und die Jugend, sowie die Frauen* organisieren sich autonom. Für den Frühling sind viele Projekte geplant. Vor allem Projekte zur Selbstversorgung. Şengal will sich vollkommen autonom tragen können. Gerade ist aber für die Versorgung, besonders von Lebensmitteln, die Verbindung nach Rojava noch von grundlegender Bedeutung. Und genau die wurde nun gesperrt. In der Nacht vom 2. auf den 3. März griffen 500 kurdische Peşmerge, die sich selbst als Rojava Peşmerge bezeichnen, eine der drei größeren Städte im Şengal, Khanesor (Xanesor), an und versperrten den Zugang von Rojava nach Şengal. Seitdem kann niemand mehr die Grenze passieren. Es ist offensichtlich, dass die Angriffe im Zusammenhang mit dem Treffen von Masoud Barzani mit dem türkischen Ministerpräsident Binali Yildirim und Präsident Recep Tayyip Erdogan am 27. Februar in Ankara stehen. Zeitgleich zum Angriff auf Şengal, begann auch die Türkei in Minbic mit großangelegten Angriffen.
Schon am ersten Tag der Angriffe kamen fünf junge Menschen der YBS Verteidigungseinheiten und zwei Kämpfer der HPG ums Leben. Die Journalistin Nujyian Erhan von der Pressestelle der Jungen Frauen in Şengal, die über die Angriffe berichten wollte, wurde selbst attackiert. Sie liegt mit einer Kopfverletzung im Koma. Die Politik der KDP war auch bislang nicht die Menschen zu unterstützen sich selbst zu organisieren und etwas Neues aufzubauen, vielmehr ging es darum, die Menschen an sich zu binden und in Abhängigkeit zu halten.
Nun geht die KDP noch einen Schritt weiter und greift die Menschen offen an. All das während DAESH nur 16 Kilometer entfernt wütet und die Menschen in Şengal all ihre Kräfte für andere Kämpfe bräuchten. Nun sind die Êzid*innen wieder gezwungen ihre Häuser in Sinuni und Khanasor zu verlassen und sich in den Schutz von Mount Şengal im Tal (Serdest) zu flüchten. Schon einmal haben sie dort Zuflucht gefunden, 2014, als der IS die Städte angriff und mordete.
Aber diesmal sind die Êzid *innen vorbereitet: nicht nur die YBS hat die Verteidigung der Bevölkerung in Şengal, gegen die Angriffe der Pesmerga, aufgenommen, es haben auch 80 junge êzidische Peşmerge die Kampfhandlung verweigert und ihre Waffen abgegeben. Einige von ihnen wurden daraufhin festgenommen oder verschleppt. Am beeindrucktesten aber ist der Widerstand der Mütter. Sind sie zu Hause auf Grund der patriarchalen Familienstrukturen eher still und meistens in der Küche anzutreffen, haben auch sie die Waffen aufgenommen. In langen Kleidern und weißem Kopftuch stehen sie mit Kalaschnikow und Militärweste in den Bergen Şengals vor der Fernsehkamera und sagen denen den Kampf an, die ihre Gesellschaft, sie und ihr Land, aber vor allem ihre Freiheit und Stärke angreifen.
Auch die Mütter in Rojava sind beim Kampf für die Freiheit ganz vorne dabei. Am 6. März zogen jung und alt, besonders aus der nahe an der Grenze liegenden Stadt Derik und aus Hesekê an die Stelle des Weges von Rojava nach Şengal, die von den Peşmerge blockiert wird. Die Peşmerge, schwer bewaffnet, versuchten die Menge durch Schüsse einzuschüchtern und davon abzuhalten bis zur Absperrung vorzurücken, doch ohne Erfolg.
Die Menschen ließen sich nicht abhalten. Allen voran die Mütter, mit ihrem Schmerz, ihrer Wut, mit ihrer Entschlossenheit und ihrer Stärke.
Es wurde geschrien, gerufen, getanzt und gesungen. Die Peşmerge unternahmen einen zweiten Versuch, die Menschen zu vertreiben: mit einem großen Tanklaster als provisorischen Wasserwerfer und abermals Schüssen wurde versucht, den Menschen Angst zu machen, aber die Mütter bewegten sich nicht, vollkommen durchnässt waren sie noch entschlossener als zuvor.
Zwar ist es in den vergangenen Tagen wieder ruhiger geworden, doch ist die Situation weiterhin angespannt und der Weg noch immer gesperrt.
Werden die KDP und ihre Peşmerge nicht von alleine verstehen, dass das, was sie tun, falsch ist und den Weg räumen, dann werden es andere tun.
Die Gesellschaft in Şengal wird nicht mehr zulassen unterdrückt zu werden, sie werden sich verteidigen und ihre Freiheit erkämpfen. Und gegen die Stärke und Kraft der Selbstverteidigung der Gesellschaft, insbesondere die der Mütter in Şengal, wird eine Armee, wie die Peşmerge niemals ankommen.
Es bleibt nur zu sagen: Biji Bexwedane Şengale!
Internationalist*innen aus Şengal, März 2017