Der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir, Rechtsanwalt Tahir Elçi, wurde am 28. November 2015
während einer Pressekonferenz im Stadtteil Sur/Diyarbakir ermordet. Tahir Elci, selbst kurdischer Herkunft, war
zeit seines Lebens ein engagierter Kämpfer für die Menschenrechte, eine friedliche Lösung der kurdischen
Frage und Verteidiger grundlegender Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Als Anwalt vertrat er von
staatlicher Repression Betroffene vor allem kurdischer und türkischer Herkunft. Die brutale Ermordung unseres
geschätzten Kollegen macht uns traurig, betroffen und auch wütend.
Unmittelbar vor seinem Tod warb Tahir Elçi vor Journalisten für Frieden in der Region: „In diesem Gebiet, das
Heimat so vieler Zivilisationen war, wollen wir keine Schüsse, keine Gewalt und keine Operationen“, sagte er,
dann fielen Schüsse. Er wurde von einem Geschoss in den Kopf getroffen und verstarb vor Ort. Die
Pressekonferenz wurde begleitet von bewaffneten Polizisten, die ebenfalls das Feuer eröffneten. Zwei
mutmaßliche Täter flohen sodann durch eine Straße in unmittelbarer Nähe von Polizeibeamten und konnten
unbehelligt entkommen. Weitere Anwesende wurden verletzt, nach Angaben des türkischen Innenministeriums
sei zudem ein Polizist getötet worden.
Während es sich nach Angaben des Innenministeriums um einen Anschlag auf Polizeibeamte gehandelt haben
und unklar sein soll, von welcher Seite die tödlichen Schüsse abgefeuert wurden, gehen die Anwaltskammer
von Diyarbakir und die Partei HDP davon aus, dass Tahir Elçi Opfer eines gezielten Mordanschlages geworden
ist.
Wir haben die Repression der letzten Wochen gegen den engagierten Juristen mit zunehmender Sorge verfolgt
und bewerten seine Ermordung als Ergebnis einer vom türkischen Staat, den AKP-nahen Medien und den
türkischen Ermittlungsbehörden angestachelten Lynchkampagne gegen unseren Kollegen, um ihn schließlich
endgültig zum Schweigen zu bringen.
Mitte Oktober hatte Tahir Elçi in einer politischen Diskussionsrunde des Senders CNN Türk erklärt: „Auch wenn
manche Aktionen der PKK Terrorcharakter haben, ist die PKK keine Terrororganisation, sondern eine
bewaffnete politische Bewegung, deren politische Forderungen eine große Unterstützung in der Bevölkerung
genießen.“ Während solche Äußerungen auch von Politikern der AKP in der Phase des Waffenstillstandes
konsequenzlos getätigt wurden, wurde Elçi kurz darauf festgenommen und nur unter Auflagen wieder entlassen.
Dieses Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden ist Teil der von Staatspräsident Erdoǧan und der AKP für die
Parlamentsneuwahlen am 1.11.2015 geschürten Atmosphäre der Eskalation und Gewalt gegen die progressive
HDP, prominente kurdische Repräsentant_innen und die kurdische Bevölkerung. Innerhalb kürzester Zeit wurde
Anklage wegen Werbung für eine terroristische Vereinigung mit einer Haftandrohung von 7,5 Jahren erhoben.
Parallel wurde Tahir Elci durch die türkische Regierungspartei und ihr nahestehende Medien in den folgenden
Wochen zur öffentlichen Zielscheibe. Morddrohungen wurden gegen ihn ausgesprochen.
Tahir Elçi ist nicht das erste Mal wegen seiner politischen Meinung und seines anwaltlichen Engagements
verfolgt worden. Bereits 1993 wurde er mit 15 anderen Kollegen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung festgenommen und war erheblichen Folterungen ausgesetzt. Hintergrund der Festnahme war seine
anwaltliche Vertretung in politischen Verfahren vor den Staatssicherheitsgerichten und seine Tätigkeit in der
Menschenrechtsarbeit. Im Jahre 2003 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verurteilt.
Das Gericht bewertete die Festnahmen und Folter von Elçi und seine Kollegen als rechtswidrig und als Verstoß
gegen die Europäischen Menschenrechtskonventionen.
Bis zu seinem tragischen Tod trat der Anwalt entschlossen gegen die türkische Politik der Unterdrückung und
des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung ein.
Seine brutale Ermordung weckt Erinnerungen an den Staatsterror der 90er Jahre in der Türkei, während dessen
zahllose kurdische Intellektuelle und Repräsentant_innen von staatlichen Geheimdiensten und vom Staat
erschaffenen Anti-Terrorgruppen ermordet wurden.
Seit den Bombenanschlägen in Diyarbakir, Suruç und zuletzt Ankara gegen progressive kurdische und türkische Aktivist_innen, sowie den Mordanschlägen auf kurdische Politiker_innen in den vergangenen Tagen warnen demokratische türkische und kurdische Kräfte vor einer neuen Welle der Gewalt. Dessen ungeachtet führt die türkische Regierung seit Sommer 2015 einen blutigen Krieg in kurdischen Städten und Regionen gegen die Zivilbevölkerung unter dem Deckmantel des nach dem Wahlsieg der HDP im Juni 2015 wiederentdeckten Gegners PKK. Mit der Aufnahme der Kämpfe sollte die HDP für die Neuwahlen im November 2015 geschwächt werden, um einer Alleinherrschaft der AKP, die sie im Sommer 2015 deutlich verloren hatte, nicht mehr im Wege zu stehen. Vor dem Hintergrund dieses so profanen wie offensichtlichen Kalküls der türkischen Regierung und allen voran ihrem Staatspräsidenten Erdoǧan ist eine Verstrickung der türkischen Regierung in die Ermordung von Tahir Elçi nicht fernliegend.
Wir unterstützen die Forderungen unserer Kolleg_innen der International Association of Democratic Lawyers
(IADL) und der European Association of Lawyers for Democracy and World Human Rights (ELDH) zur
Einrichtung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission in Zusammenarbeit mit türkischen
und kurdischen Kolleg_innen, um Tahir Elçi und den anderen Opfern des türkischen Staatsterrors Gerechtigkeit
zukommen zu lassen.
Wir rufen mit dazu auf, am 10. Dezember 2015 – dem Internationalen Tag der Menschenrechte – vor den
türkischen Botschaften und Konsulaten gegen die Politik der Eskalation und Gewalt und für eine umfassende
Aufklärung der Umstände des Todes von Tahir Elçi zu demonstrieren.
MAF-DAD e.V. / AZADÎ e.V.
Köln, 30. November 2015