Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Deutschland beim Newrozfest in Wan, 19.03.2017
Beide Anwälte sind auf Menschenrechte (Human Rights, HR) und auch Refugee Fälle spezialisiert. Ümid Dede war der Ansprechpartner für Van in der Mesopotamischen Anwaltsvereinigung (trk. “Mezopotamya Hukukcular Dernegi”). Die Assoziation wurde geschlossen. Aktuell, so sagen sie, ist es sehr viel Arbeit, insbesondere, weil es so wenig andere Anwält_innen gibt, die HR Fälle bearbeiten.
Zur aktuellen Situation:
MK: „Wenn man Menschenrechtsfälle bearbeitet, dann gibt es keine Garantie, dass man auch als Anwalt nicht einfach verhaftet wird“
Die Anwälte in der Region arbeiten schon zwei oder drei Jahre unter großem Risiko. Viele sind seitdem verhaftet worden, in Van und anderen kurdischen Provinzen, aber auch in Istanbul und in weiteren Teilen des Landes. Aus Van sind mehr als drei Anwält_innen nach Europa geflüchtet. MK berichtet von einem Anwalt, der gleichzeitig der frühere Vorsitzende der HDP Van war und nun in Europa (Schweden) einen Asylantrag gestellt hat: Er wurde hier zu 15 Jahren Haft verurteilt und war auch 8 Monate in Untersuchungshaft, innerhalb von 6 Monaten hat der Kassationsgerichtshof das Urteil bestätigt, weshalb der Kollege nun geflohen ist.
- MK: „Der Druck auf kurdische Anwält_innen ist massiv gestiegen“
- Auch das Anwaltsbüro, welches Öcalan vertritt, ist geschlossen, die Anwälte sind inhaftiert
- Die Anwält_innen, die Mitglieder des Rechtsbüros des Jahrhunderts (trk. „Asrin Hukuk Bürosu“, linkes prokurdisches Anwalltsbüro) sind, sind auch inhaftiert, viele der Mesopotamischen Anwaltsvereinigung sind nach dem Eintreten des OHAL (Ausnahmezustand) inhaftiert worden, viele von ihnen sind immer noch in U-Haft. Insgesamt sind über 4000 Richter_innen und Staatsanwält_innen entlassen und/oder inhaftiert worden, davon 200 aus Van. Erst am 18.3. wurden wieder über 100 Personen entlassen. Gegen viele laufen Verfahren.
- In Bursa wurde vor zwei Tagen ein Kollege inhaftiert, ÜD: „Er ist immer noch in Haft und hat keinen Zugang zu anderen Anwälten.“
- ÜD: „Als Anwälte haben wir es derzeit sehr schwer, alle Menschenrechtsverletzungen, die in der Region stattfinden, zu dokumentieren und öffentlich zu machen.“
Zudem besteht die Schwierigkeit, dass sich von den vielen Menschenrechts-Anwält_innen, die vor dem Ausnahmezustand noch vor Ort gearbeitet haben, etliche aus Angst oder anderen Gründen zurückgezogen haben. Die Anwälte berichten von der Taktik der staatlichen Behörden, öffentlich zu verbreiten, dass diejenigen Anwält_innen, die Fälle mit Menschenrechtsbezug übernehmen, Verbindungen zu illegalen und terroristischen Organisationen haben.
Es gibt also nur noch eine kleine Gruppe von Anwält_innen, die diese Fälle bearbeitet:
- Insgesamt waren es rund 400 Anwält_innen in der Region
- Davon etwa 100, die HR Fälle angenommen haben
- Aktuell arbeiten weniger als 30 Anwält_innen aktiv in diesem Bereich in der Region
Mit dem Ausnahmezustand wurden durch Präsidialerlasse Gesetze geändert oder auch bestehende Gesetze gebrochen:
- Inhaftierten kann 5 Tage lang der Zugang zu einem Anwalt verweigert werden.
- Auch die Zeit bis zur Vorführung vor den Haftrichter (Polizeigewahrsam) ist auf 30 Tage verlängert worden.
Wenn die Gendarmerie jemanden festnimmt, dauert es mindestens fünf Tage, bis diese Person einen Anwalt sehen kann. Währenddessen werden jedoch die Aussagen aufgenommen. Die Polizei behauptet in manchen Fällen auf Nachfrage, die betroffene Person wolle keinen Anwalt haben. Im Falle einer solchen Behauptung liegt der Verdacht nahe, dass die Betroffenen während dieser Zeit gefoltert wurden, was aus Sicht unseres Gesprächspartners systematisch geschieht.
Zudem gibt es Anwält_innen, die für die Polizei arbeiten. Sie werden eingesetzt, um während der Aussagen dabei zu sein und dann im Sinne der Polizei bei der Anklageerhebung zu helfen. Wenn die Anwält_innen dann Kontakt zu ihren Mandant_innen haben, gehen ihnen allerdings zunächst nur die Aussagen zu, sie erhalten keine Akteneinsicht und wissen oft nicht, was ihren Mandant_innen überhaupt vorgeworfen wird.
MK, der auch „FETÖ“-Mandant_innen (FETÖ, Abk. für Fethullahistische Terrororganisation des Predigers Fethullah Gülen) vertritt, berichtet davon, dass die Anwaltsbesuche nur mit vollständiger Kameraüberwachung und in Anwesenheit von Polizisten stattfinden können. Sein Kollege ergänzt, dass dies generell bei Mandant_innen gemacht wird, die unter „Terrorverdacht“ stehen – sein Eindruck ist, dass dies in manchen Gefängnissen zwischenzeitlich systematisch mit allen Verdächtigen gemacht wird.
MK: „Gestern habe ich einen Klienten im Gefängnis besucht. Ich habe versucht, ihm die Anklageschrift zukommen zu lassen, damit er weiß, weshalb er angeklagt ist. Die Beamten haben dies nicht gestattet, sie haben den Zettel nur selber kontrolliert. Es gibt für die Gefangenen quasi keine Rechte. Der Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf ein faires Verfahren) wird in der Türkei systematisch verletzt.“
80-90% der Personen, die wegen vermeintlicher Verbindungen zu „Terrororganisationen“ festgenommen werden, werden automatisch inhaftiert. MK: „Sie erhalten hierfür immer die gleiche Begründung – es ist nur copy + paste.“
MK führt ein Beispiel an: „2014, während der Angriffe des IS auf Kobane, gab es viele Demonstrationen in der Region. Viele Menschen wurden festgenommen. Einer von ihnen, ein Mitarbeiter einer Stadtverwaltung wurde in Haft gefoltert und dann wegen der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ angeklagt. Verurteilt wurde er dann jedoch für Mord. Das sind die „copy + paste Fälle“, von denen ich spreche – sie lesen nicht mal ihre Urteile! Er war 5 Monate im Gefängnis, der Anwalt hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Urteil widerrufen zu lassen. Das geschah dann auch, und in der Begründung stand: Mandant ist nach den Videos nicht den Menschen zuzuordnen, die Steine auf Polizisten geworfen haben. Dabei wurde er ja mit einer ganz anderen Begründung eingesperrt!“
Als zweites Beispiel führt er den Fall von Selma Irmak an, die Abgeordnete von Hakkarı war und zu den 13 verhafteten HDP-Abgeordneten gehört. Nach Aussage der Staatsanwaltschaft sowie der Verteidigung von Irmak sollte es nach einigen Minuten Pause zur Urteilsverkündung kommen. Kaum in der Pause, wurde schon ein Tweet der Anadolu News Agency veröffentlicht: „Selma Irmak verurteilt.“ Zurück im Gerichtssaal folgte dann wenige Minuten später der dazu gehörende Richterspruch. MK: „Sie hatten ihre Entscheidung schon längst anderswo getroffen. Es ist wie ein Theater!“
Petitionen, die von Anwälten gemeinsam mit Abgeordneten und anderen Organisationen zu diesen Vorkommnissen und Rechtsbrüchen eingereicht werden, werden nicht bearbeitet.
Neuerdings häufen sich Anklagen wegen „Beleidigung des Präsidenten“. Nach § 299 des türkischen Gesetzes kann dabei das ganze Haus der angeklagten Person per Durchsuchungsbefehl auf den Kopf gestellt werden, die Leute werden inhaftiert und zu Haftstrafen verurteilt. Das geschehe ebenfalls systematisch, sagen beide, sie betreuen jeweils mehrere Fälle davon (MK derzeit über 10).
Auch die Verfolgung von Personen, die Inhalte auf Facebook, Twitter oder anderen Social Media Plattformen posten oder teilen, nimmt zu. „Da gibt es auch eine große Zensur.“
Auf die Frage, wer denn jetzt überhaupt noch im Gericht arbeite: Aktuell werden sehr viele als (Staats)anwält_innen oder Richter_innen eingestellt, die sehr jung sind, die noch zu Beginn ihres Referendariats standen und kaum Erfahrung haben. Viele Fälle werden zudem einfach monatelang verzögert oder auf unbestimmte Zeit verschoben – während die Leute im Knast warten; oder, wenn sie nicht inhaftiert sind, das Land nicht verlassen dürfen und/oder sich wöchentlich bei der Polizeistation ihrer Stadt melden müssen (juridical control measures). Einsprüche gegen diese Maßnahmen werden automatisch abgelehnt.
Für die Bevölkerung entstehen indes große soziale Problemlagen aufgrund der entlassenen Stadtverwaltungsangestellten. Viele der Entlassenen stehen noch unter Beobachtung und finden auch keine neue Anstellung. Bei den über 100.000 entlassenen Personen des öffentlichen Sektors landesweit gibt es noch keine einzige gerichtliche Entscheidung darüber, dass die Entlassung nicht rechtens war. ÖD: „Es ist das Gefühl, als gäbe es gar keine Rechte mehr.“
MK: „Die wichtigste Veränderung: Es gibt keine rechtlichen Regeln mehr“, es herrscht ein rechtsfreier Raum“. Die Situation ist vergleichbar mit der Zeit in den 1980er/90er Jahren, allerdings nicht im gleichen Ausmaß.
Europäischer Gerichtshof
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist indes die Fälle aus Kurdistan wieder zurück, oftmals mit der Begründung, es müsse erst in der Türkei der Rechtsweg erschöpft sein, also die Fälle bis zum Kassationsgericht gehen. Das Problem ist, dass das oberste Gericht derzeit keine Urteile fällt: Es sind dort schon über 80.000 Anträge eingegangen. Der Eindruck ist, dass die Richter dort aktuell keine Entscheidungen fällen wollen, weil sie selbst ins Kreuzfeuer geraten könnten. Zwei der Obersten Richter seien auch schon entlassen worden. MK: „Sie stapeln die Fälle dort einfach, sie werden nicht einmal registriert“. Damit kann auch keine Weiterbearbeitung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erfolgen. „Sie (EGMR) wissen um die Situation. Aber sie tun nichts!“
Zum Thema Flüchtlinge:
MK: Ein Mandant, der aus dem Iran kam, war 10 Jahre lang in der Türkei inhaftiert. Nach 8 Jahren sollte er freikommen. Während der Haft stellte er einen Asylantrag, um nicht abgeschoben zu werden. Der Fall wurde bis zum Kassationsgerichtshof getragen, wo er Erfolg hatte. Trotz des Urteils wurde er in den Iran abgeschoben. „Diese Gerichtsentscheidungen sind wertlos. Sie halten sich nicht an die Gesetze des eigenen Landes, geschweige denn an die internationalen.“
- So erkennt die Türkei z.B. die UN- und UNHCR-Berichte nicht an.
- Die europäischen Länder verhielten sich beim Thema Flüchtlinge wie der türkische Staat: „ Flüchtlinge werden als Waffe in dieser schmutzigen Politik eingesetzt.“
In Van gibt es hauptsächlich Flüchtlinge aus dem Iran und Afghanistan, wenige aus Syrien. Zu den genauen Zahlen von iranischen und afghanischen Flüchtlingen gibt es keine offizielle Statistik. Die afghanischen Flüchtlinge haben nach Aussage von MK die schlechtesten Lebensbedingungen in Van. 2008-2012 kamen viele Menschen aus Afghanistan über den Iran in die Türkei, um Asyl zu beantragen. Sie befinden sich seit 2013 „im Limbo“, weil dort die UN-Resettlement-Programme von Afghanen in der Türkei gestoppt wurden. Die türkische Regierung will, dass die afghanischen Flüchtlinge in den Iran gehen: „Da sei die Situation gut – aber das ist natürlich nicht so“. Nun sind sie hier „ohne Zukunft“, die Kinder gehen nicht zur Schule. „Die wenigen Rechte, die sie haben, haben sie nur auf dem Papier.“ Auch die Situation von syrischen Geflüchteten in Van sei schlecht, so seien es z.B. die Frauen, die in eisigen Temperaturen auf der Straße an den Ampeln sitzen. Bei den Menschen aus dem Iran gibt es oftmals noch Möglichkeiten, in Kontakt mit der Familie zu sein und Unterstützung zu erhalten; auch seien diese Flüchtlinge „besser vorbereitet“.
Es gibt ein Abschiebezentrum in Van. MK berichtet, dass aber von vielen Flüchtlingen, die während der Flucht verhaftet werden, gar keine Anträge angenommen werden: Die Menschen werden einfach abgeschoben.
Es gab auch ein kleines UN-Büro in Van, welches allerdings nicht mehr aktiv ist. Zwei UN- (N)GOs kümmern sich um Flüchtlingsangelegenheiten, seien aber nicht kritisch, sondern arbeiten im Sinne der Regierung. Sonst gibt es keine politische oder sonstige Vertretung oder Gruppierung für die Geflüchteten.
Abschließend:
„Wir sind in großer Gefahr. Wer schützt uns, als Anwälte? Und wenn es uns schon so ergeht, dann ist klar, dass die Zivilbevölkerung noch schlimmer dran ist. Aber auch wir als Anwälte: Da ist nichts mehr, worauf wir vertrauen können.“ MK verweist auf den Mord an dem Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi in Amed, der vor den Augen vieler Menschen erschossen wurde. Bislang gibt es noch keinen Fortschritt in den Untersuchungen zu dem Mordfall. „Der Mord an Elçi sendet ein Signal an alle anderen Anwälte.“