Historisch wie gegenwärtig durchzieht sich ein und dasselbe Argumentationsmuster in der Ideologie des türkischen Nationalismus und Staates, der das eigene Unrecht gegenüber den Kurden legitimiert und die legitimen Forderungen nach Demokratie und Gleichberechtigung verschleiert. Im Folgenden wird gezeigt, wie diese blinde Ideologie sowohl den Staatsterror rechtfertigt als auch dem Frieden und der Demokratisierung nicht nur in der Türkei, sondern im ganzen Mittleren Osten im Wege steht.
Bereits nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und kurz nach Entstehen der heutigen Republik Türkei, insbesondere in den Zeiträumen 1915–1925 und 1925 bis in die Gegenwart, ereigneten sich zahlreiche kurdische Aufstände. Diese richteten sich gegen das Abhandenkommen der im Osmanische Reich noch vorhandenen Autonomie und die politische und rechtliche Nichtexistenz der Kurden innerhalb des türkischen Nationalstaats der heutigen Republik Türkei. Neben einigen anderen sind vor allem der Scheich-Said-Aufstand oder der Aufstand der alevitischen Kurden in Dersim zu nennen. Die Aufstände richteten sich insbesondere auch gegen den Verrat von Mustafa Kemal, der zuvor zahlreiche kurdische Stämme für den erfolgreichen Befreiungskrieg mobilisiert hatte. Ihre Unterstützung sicherte er sich mit der taktischen Lüge der Gründung eines gemeinsamen Staates der Kurden und Türken auf Grundlage der gemeinsamen islamischen Identität.
„Als dieser Staat gegründet und vom Lausanner Vertrag im Juli 1923 anerkannt war, brach Mustafa Kemal seine Versprechen für die kurdische Autonomie sofort und löste die Nationalversammlung auf, in der auch 75 kurdische Abgeordnete gesessen hatten. Er schloß sogar kurdische Schulen und verbot jeden Ausdruck kurdischer Kultur.“ (Brauns/Kiechle 2010: 20)
Nationalismus, Macht, Gewalt, Unterdrückung
Während die Aufstände mit europäischer Unterstützung blutig niedergeschlagen wurden, verhüllte und legitimierte die damalige türkisch-staatliche Propagandamaschinerie die legitimen Forderungen der Kurden und die eigene faschistische Haltung mit dem Argument der Terrorbekämpfung und des Separatismus. Die Akteure des Widerstands wurden als Eskiya (deutsch: Banditen, das damalige sprachliche Pendant zu Terroristen) bezeichnet, die vorhätten als Handlanger der Briten die Republik Türkei zu teilen. Der eigene Verrat an den Kurden und der eigene Terror bzw. die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik wurden auf diese Weise der eigenen Bevölkerung verkauft und diskursiv legitimiert sowie die eigentlichen Ursachen verdrängt. Die Gründe für diese Politik waren neben dem bereits voll erblühten türkischen Nationalismus das Ziel der Kemalisten, einen an den Westen orientierten zentralistischen türkischen Nationalstaat zu erschaffen. Das Prinzip des Nationalismus wurde dahingehend interpretiert, in die Verfassung verankert und institutionell und über das Erziehungssystem übermittelt, dass in der Türkei keine andere Nation oder Ethnie außer der türkischen existiert. Damit ging auch das Verbot der kurdischen Sprache und Identität einher. Atatürk und die kemalistische Bewegung waren große Fans Europas, sodass sie die sich in einem historisch komplexen Prozess herausbildenden europäischen Konzepte schablonenartig auf den diversen Mittleren Osten übertrugen. Der Nationalismus wurde nach dem (ethnischen) deutschen, der Nationalstaat nach dem (zentralistischen) französischen Modell etabliert: Dies impliziert die zentrale Herrschaft alles Türkischen über alle anderen Gruppen und legt den Grund für deren Zwangsassimilation und Unterdrückung. Ein schlechtes Modell, um das Vielvölkerreich der Osmanen abzulösen und die jahrtausendealte diverse kurdische Kultur und Sprache zu integrieren. Die Kemalisten nahmen die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Türkei nicht als Ausgangspunkt und haben nie Programme konzipiert, die die Strukturen religiöser, ethnischer oder politischer Art hätten integrieren können; im Gegenteil, es wurden große Anstrengungen unternommen, die Vielfalt als feindlich zu sehen und sie zu bekämpfen. Nicht zuletzt war diese leere und realitätsferne sowie dem Mittleren Osten fremde Konstruktion der zentrale Grund für den heute noch andauernden Niedergang des Kemalismus. Doch genug mit Geschichte, wer interessiert ist, der ist dazu eingeladen, einen Blick in die wissenschaftliche Literatur über die blutige Geschichte der Türkei und der kurdischen Frage zu werfen. Hier interessant ist die Entlarvung des ideologischen Überbaus, der es mit Lügen und der Erschaffung falscher Kausalitäten bis in die Gegenwart schaffte, die Massentötung, Zwangsassimilation und Vertreibung von Millionen von Menschen zu rechtfertigen und den völkerrechtlich und moralisch legitimen Widerstand dämonisierend zu kriminalisieren. Historisch wie gegenwärtig begründete der staatsfixierte türkische Nationalismus bzw. der Staat Türkei seine Verbrechen mit dem Kampf gegen den Terror und dem Vorwurf des Separatismus. Im Türkischen gibt es das Sprichwort „Sowohl schuldig als auch rechthaberisch“ (Hem suçlu hem güçlü), welches die Psychologie und Ideologie des so handelnden türkischen Staates und seiner Anhänger treffend beschreibt. Die legitimen Forderungen der Kurden nach Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Menschenrechten werden als Separatismus und Terror diffamiert, um so die eigene faschistische Herrschaft über Kurden und Kurdistan zu legitimieren. Ich kann nicht aufhören, diese Tatsache zu wiederholen, denn nur auf diese Weise kann sie durchbrochen werden.
Kurden sind heute nicht nur „separatistische Terroristen“, sondern auch Ungläubige
Knapp hundert Jahre nach den ersten Aufständen der Kurden und der Übernahme des türkischen Staates durch die Islamisten der AKP, der türkisch-islamischen Synthese, hat sich an dieser Strategie nicht viel geändert; viel schlimmer, heute ist sie zudem religiös konnotiert, d. h. in einem absolutistischem Gewand. Die widerständigen Kurden sind heute nicht nur „separatistische Terroristen“, sondern auch Ungläubige.
Als Resultat der obigen kulturellen Verleugnungs- und Vernichtungspolitik sowie der ignoranten und chauvinistischen Haltung der damaligen türkischen Linken, die die kurdische Frage auf eine Klassenfrage reduzierte und das eigene Festhalten an einen türkischen Nationalstaat nicht in Frage stellte, entstand in den 1970er Jahren der bis heute letzte und größte kurdische Widerstand um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Abdullah Öcalan. Auch dieser Widerstand wird seitens der türkischen Propagandamaschinerie mit demselben Argumentationsmuster beschrieben und diffamiert, um die realen Probleme des Landes und die Forderungen der Kurden zu verdecken. Schaut man sich die Akteure und ihre Forderungen näher an, wird deutlich, dass diese mit Faschismus befangene Ideologie, die Realität verdreht. Die anfänglichen Ziele der PKK, die Selbstbestimmung der Kurden durch Gründung eines sozialistischen kurdischen Staates zu erreichen, wurden von Abdullah Öcalan bereits 1993 verworfen und öffentlich deklariert. Seitdem dürfte es dem türkischen Staat bekannt sein, dass es der kurdischen Befreiungsbewegung um die kulturelle und rechtliche Gleichstellung und Selbstbestimmung der Kurden innerhalb der Türkei geht, doch muss er weiter an dem beschriebenen Argumentationsmuster festhalten, um seine kolonialistische und rassistische Herrschaft zu sichern. In seinen Verteidigungsschriften der 2000er Jahre beschreibt Abdullah Öcalan die anfängliche Situation als die „Verstrickung der PKK in die Ideologien des Sozialismus und des Nationalismus“. Damit ist der damalige Kontext des Realsozialismus in der bipolaren Welt und der nationaler Befreiungsbewegungen gemeint, in dem sich die PKK „verstrickt“ und damit in eine Sackgasse begeben hatte, so die Selbstkritik Öcalans. Spätestens mit dem Konzept des Demokratischen Konföderalismus verwarf man den macht- und staatsfixierten und monistischen Nationalismus, stattdessen orientiert sich die kurdische Bewegung auf die Etablierung einer pluralistischen und ökologischen Graswurzeldemokratie – der demokratischen Selbstverwaltung der Kurdinnen und Kurden der eigenen Gesellschaft innerhalb bestehender Grenzen der Nationalstaaten.
Wege der Demokratisierung verbaut
Spätestens seit dem kurzlebigen Friedensprozess zwischen der AKP-Türkei und der PKK dürfte jedoch klar sein, dass die PKK sich als eine Bewegung für die gesamte Türkei betrachtet und das Ziel eines „freien Kurdistans in einer demokratischen Türkei“ verfolgt. Die legal-politische Facette dessen ist die Demokratische Partei der Völker (HDP). Der Vorwurf des Separatismus ist also mindestens seit drei Jahrzehnten, eigentlich sogar ursprünglich, nachweislich unhaltbar. Trotzdem ist er das zentrale Argument des türkischen Staates, wenn es darum geht, nationalistische Türken um sich zu scharen, denen die Einheit des türkischen Staates und die Unteilbarkeit des Landes als etwas heiliges indoktriniert wird. Die HDP ist ein Lichtblick für die Demokratisierung der Türkei, doch als sie die absolute Macht Erdoğans brach, intervenierte dieser, schmiss den Friedensprozess, schlug die Kriegstrommel, ordnete Neuwahlen an und holte im Bündnis mit der faschistischen MHP wieder die Mehrheit. Und was waren und sind seine ideologisch-technischen Mittel dabei? Die Kurdenfeindlichkeit im nationalistisch-religiösen Mantel, das Argumentationsmuster der „Terroristen und Verräter im Auftrag ausländischer Mächte wollen die Türkei spalten“. Auf diese Weise blockiert man jede Demokratisierungsmöglichkeit und nährt sich vom Leid und Blut der Menschen.
Durch diese bewusste propagandistische diskursive Strategie und Politik des türkischen Staates wird ein Großteil der Menschen medial, familiär und im Zuge des Bildungssystems – ein Blick in das türkische Bildungsmaterial sowohl der Kemalisten als auch der Islamisten reicht – zu nationalistischen und kurdenfeindlichen Persönlichkeiten sozialisiert. Die Gleichschaltung der Medien und die damit verbundene Macht der Deutung und Meinungsbildung zusammen mit der nationalistischen und verleumderischen Erziehung im Bildungssystem, wirken bis in die familiäre Sozialisierung und ebnen durch Reproduktion den Weg des tendenziell gesamtgesellschaftlichen antikurdischen faschistoiden Nationalismus. Mit dieser multiplen Vorgehensweise sichern sich der Staat und die regierende Macht die Unterstützung des nationalistischen Mobs – denn der Nationalstaat lebt von den Nationalisten –, lenken von den wirklichen Problemen im Inneren ab und verhindern die Demokratisierung des Landes mittels der Lösung der kurdischen Frage.
Politik in Deutschland trägt zur Kurdenfeindlichkeit bei
Schaut man sich ganz aktuell die Sprache Erdoğans, der AKP-Anhänger und anderer türkischer Nationalisten auch in Deutschland an, dann wird ersichtlich, dass auch gegenwärtig die legitimen Forderungen der Kurden mit dem Totschlagargument des Terrorismus und Separatismus verschleiert werden. Es gäbe kein Kurdenproblem, sondern nur ein Terrorproblem; man habe kein Problem mit Kurden, sondern nur mit der PKK. Die Terroristen in Syrien würden die Sicherheit der Türkei bedrohen. Die Kurden und Türken seien Brüder und gleichgestellt. Dass die kurdische Sprache und Identität noch vor zwei Jahrzehnten gesetzlich (!) verboten war und erst der Widerstand der PKK dies durchbrach, wird ignoriert und mittels des Argumentationsmusters diskursiv „unterdrückt“. Auch dass die PKK aufgrund der Verleugnung und Unterdrückung der Kurden entstanden ist, interessiert nicht oder weiß man gar nicht. Das geht alles so weit, dass sogar ganz aktuell selbst die Kurden in Syrien oder jegliche kurdische Stimme, selbst in Deutschland, nach Gleichberechtigung und Demokratie als „Terrorunterstützung“ verunglimpft wird. Das deutsche PKK-Verbot aufgrund der Mittäterschaft mit der Türkei und ökonomischer Interessen leistet dem eine starke Grundlage. Ein empirisch interessierter Blick auf den Hashtag #AfrineBüyükTaarruz auf Twitter reicht aus, um die Wirkungen dieser verzerrenden und verblendenden Politik auf die Bewusstseine der Menschen und ihrer Formung zu einer nationalistischen und kriegs- und blutdürstigen Gefolgschaft zu erfassen. Triebfeder ist dabei die mit Terrorismusbekämpfung begründete Kurdenkfeindlichkeit im patriotisch-nationalistischem Mantel.
Auf den Kontext in Deutschland und in Bezug auf die hier lebenden und mit dem türkischen Staat sympathisierenden Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund ist zu ferner bemerken, dass die starke Konsumierung gleichgeschalteter türkischer Medien und ihre starke Orientierung an und Identifikation mit dem türkischen Nationalismus nicht nur ihre kulturelle, d. h. zum Beispiel demokratische Werte betreffende, Integration in die hiesige Gesellschaft behindern, sondern auch chauvinistische und demokratiefeindliche Einstellungen fördern, die wiederum den Weg für sozialen Unfrieden mit anderen gesellschaftlichen Gruppen ebnen. Dies kommt nicht nur der AKP und Erdoğan, sondern auch den Rechten der AfD oder innerhalb der CDU/CSU entgegen, die für ihr politisches Dasein fremdenfeindliche Einstellungen und politische Linien alltagstauglich machen.
Alles auf eine Formel gebracht: Lasst euch von den Argumenten der türkischen Nationalisten oder AKP-Anhänger nicht täuschen, wenn sie die politische Lage der Türkei, die Aggression des türkischen Staates oder das Kurdenproblem auf „Terrorbekämpfung“ oder „die PKK“ reduzieren. Dahinter steckt eine Strategie der Verdrängung realer Probleme, das Schönreden des türkischen Staatsterrors und die Verschleierung der Kurdenfeindlichkeit. In Zeiten, wo die türkische AKP-Regierung auf internationaler Ebene versucht den Nährboden für einen Angriff auf Rojava zu schaffen, ist eine solche Sensibilisierung von hoher Wichtigkeit.
Ein Text von Ronî Tarî, Soziologe und auf Twitter unter @karayilanCemal zu finden.