Die Operation in Rakka geht in eine neue strategische Phase. Viele Hürden werden überwunden und es wird viele neue Entwicklungen geben.
Analyse vom 25.05.2016 – Amed Dicle, Brüssel
Die von der Welt erwartete Rakka-Operation hat tatsächlich am 24.05.2016 begonnen. Damit die Operation starten konnte, wurden seit längerem militärische, politische und diplomatische Vorbereitungen getroffen. Der Beschluss für den Start der militärischen Operation fiel Mitte Mai dieses Jahres. Seit dem 19. Mai wurden die Kämpfer_innen in die Region zusammen gezogen und am gestrigen Tag die Erklärung Operation zur Befreiung Nordrakkas bekannt gegeben. Die Operation in Rakka führt die QSD (SDF – Syrian Demokratic Forces, SDF; Demokratische Kräfte Syriens) aus. Die QSD ist ein Bündnis diverser demokratischer Kräfte, jedoch machen die YPG/YPJ den größten Anteil im Bündnis aus. In den letzten Tagen schlossen sich der QSD Kämpfer_innen der demokratischen Kräfte Rakkas Ekrar El Reqa und Liwa Tehrir an, die eine aktive Rolle in der militärischen Offensivoperation einnehmen werden. An der Offensivoperation nimmt die internationale Koalition ebenfalls teil und leistet aus der Luft Unterstützung. Die vor einiger Zeit stationierten 50 US-Militärexperten in der Region wurden aufgestockt. Am 23. Mai gingen 250 weitere US-Militärexperten nach Rojava. Auch Russland gab gestern bekannt, dass sie bereit seien, die Operation mit zu unterstützen.
Die Rakka-Operation hätte bereits früher beginnen müssen, jedoch verzögerte die Türkei dies durch das letzte Treffen zwischen Erdoğan und Obama, bei der die Türkei eine Reihe von Verpflichtungen eingegangen ist. Während dieser Zeit haben die Einsatzkräfte nicht auf die nötige Vorbereitung für die Operation verzichtet.
Damit die YPG/QSD nicht an der Operation teilnehmen, versprach die Türkei den USA, die eigenen vorbereitete Gruppen gegen den IS kämpfen zu lassen. Obwohl die USA dieses Vorhaben als leere Versprechen betrachteten, gaben sie ihr Einverständnis. Allerdings erhielt die Türkei eine Frist von zwei Monaten. Aus der Behauptung „Wir bilden aus der Gruppe der qualitativen und quantitativen aus“ wurde jedoch erneut ersichtlich, dass sie nichts tun will. So bleiben Ankara keine weiteren Ausreden. Das gemeinsame Projekt „Ausbildung und Bezahlung“ der türkischen und der US-Regierung ist völlig gescheitert. Die US-Ausbilder, die an diesem Projekt teilnahmen, haben bereits die Arbeit eingestellt und sind jetzt in Rojava.
Der US -General Joseph Votel [1] ging letzte Woche nach Rojava, um sich mit QSD-Kommandant_innen und der Führung von Rojava zu treffen. Die Amerikaner verlassen sich auf Rojava, was die Rakka-Operation betrifft, nachdem die Türkei ihre Glaubwürdigkeit verloren hat.
General Votel machte bei seiner Rückreise in Ankara Halt und teilte den Beschluss der Rakka-Operation den türkischen Regierungsvertretern mit. So bemerkte Votel in Richtung Türkei: „Wenn wir den Luftraum in İncirlik nicht nutzen können, nutzen wir den Luftraum in Rimelan.“ Damit wurde der Türkei auch der Incirlik-Trumpf aus der Hand genommen. Und für die türkische Regierung gibt es nichts mehr zu tun, als zu beten, dass die Operation scheitert!
Diese Operation ist ein Prozess. Die am 24. Mai gestartete Operation kann nicht in kurzer Zeit abgeschlossen werden. Bei dieser Operation gibt es hohe Risiken, sowohl politische als auch militärische. Die Demokratischen Kräfte Syriens ist eine sowohl eine politische als auch militärische Struktur und stellt auch wegen ihrer Vielsprachlichkeit als einziges Modell für ein demokratisches Syrien dar. Kurd_innen, Araber_innen und alle in der Region lebenden ethnischen und konfessionellen Bevölkerungsgruppen kommen unter diesem Dach zusammen. Um sie zu stärken, ist die Vertreibung des IS aus Nordsyrien eine Notwendigkeit. Neben der Türkei gibt es auch andere ernstzunehmende Kräfte, die gegen solch eine Entwicklung sind. Je weiter die Operation fortschreitet, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass innere, aber auch äußere Kräfte angreifen werden. Insbesondere die nach Rojava durchgesickerten oder noch durchsickernde Gruppen sind bereit, alles Erdenkliche zu tun. Davon ist auszugehen. In dieser Phase sollten die Türkei und Nordkurdistan im Kampf gegen den IS besonnen an einem Strang ziehen. Sie werden nicht zögern, ähnliche Anschläge wie die Massaker von Ankara und Suruc zu versuchen.
Aber diese Risiken werden die Operation nicht stoppen, sondern sie noch stärker und schneller umsetzen. Genau das wird passieren.
Die Rakka-Operation nur auf die Region Rakka zu begrenzen, wäre falsch. Ja, Rakka ist ein wichtiges Zentrum, es vom IS zu bereinigen wird die Entwicklung Rojavas und Syriens beeinflussen. Aber Rakka bedeutet „Nordsyrien“. Es bedeutet Nordsyrien, von Rakka nach Mınbiç, von da aus in Richtung Nord-Aleppo, also die Şehba-Region (Cerablus-Azez Linie).
Erstes Ziel der Operation ist Nordrakka. Das ist 50 km südlich von Kobanê, die bei der Stadt Eyn İsa beginnt, bis rund um die Stadt Rakka. Die erste Phase der Operation wird auf diese Weise verlaufen und dann von drei Seiten aus weitergeführt.
Sobald die Region gesäubert und die QSD-Kräfte die Stadt umzingelt haben, werden die Kämpfer_innen wahrscheinlich eine neue Einschätzung der Lage vornehmen. Denn der Städtekampf erfordert eine andere Kriegsführung. Aus diesem Grund konzentrieren sich die Kämpfer_innen zuerst auf die Dörfer und Städte im Norden Rakkas. Während dieser Operationsphase der Bekämpfung des IS müssen auch die anderen Regionen in Nordsyrien sorgfältig beobachtet werden.
Die Rakka-Operation dient nicht nur der Vertreibung des IS aus der Region, sondern aus ganz Nordsyrien.
Aus Rakka vertriebene IS-Kämpfer können unmöglich die Städte Mınbiç und Cerablus unter Kontrolle halten. Das Schicksal dieser Regionen hängt voneinander ab. Erst wird eine Region, dann nachher die anderen gemeinsam befreit. Es ist die Aufgabe der Militärtaktiker und der Militärstrategen. Die Entwicklungen halten Überraschungen bereit. Aber am Ende entsteht eine Pufferzone zwischen dem IS und der Türkei. Und das wird trotz des Widerstands der Türkei passieren. Wenn man will, kann das auch anders gedeutet werden!
Dieser Zug verläuft bis in die nächsten Sommermonate. Die Ergebnisse ermöglichen Veränderungen, aus denen ein neues Syrien entstehen kann. Wenn dies wie erwartet zum Erfolg führt, wenn der IS zerschlagen und aus Nordsyrien und Rojava vertrieben ist, wird dies den Einfluss der Türkei in Syrien beenden. Das ist für mich offensichtlich.
Die Entwicklungen in Rojava und Syrien werden auch den Krieg in Nordkurdistan (Südosttürkei) und die kurdische Frage beeinflussen. Tatsächlich hat die AKP-Regierung den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung durch die Entwicklungen in Rojava begonnen. Seit den 30. Oktober 2014 der MGK [2] den Krieg gegen die Kurden beschloss, wird er geführt. Die Niederlage der Türkei in Rojava und Syrien bedeutet den Sieg der Kurden in der Türkei. Deshalb sind die Entwicklungen von entscheidender Bedeutung für alle.
Die Rakka-Operation ist der Beginn einer neuen strategischen Ära. Viele Hürden werden überwunden und es wird viele neue Entwicklungen geben.
Die Löwen haben begonnen, ihre eigene Geschichte zu schreiben, wir werden sehen, was die Schakale machen werden …
Fußnoten:
[1] Joseph Votel ist ein General der Army und seit dem 30. März 2016
Oberbefehlshaber des United States Central Command (USCENTCOM), einem
teilstreitkraftübergreifenden Regionalkommando der Streitkräfte der
Vereinigten Staaten.
[2] MGK – Millî Güvenlik Kurulu zu Dt: Nationaler Sicherheitsrat Ankaras
ANF, 25.05.2016