Am 15. Juni wurde die Türkei von einem äußerst fragwürdigen Putschversuch erschüttert. Doch schon im Vorfeld war der türkische Staat auf Abwegen. Seit den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr – die AKP verfehlte die absolute Mehrheit und Erdogans Traum von einer Präsidialdiktatur platzte – beherrscht Krieg den Alltag in Nord-Kurdistan (Südost-Türkei), der Friedensprozess mit den Kurden ist ad acta gelegt: Städte werden von der Armee belagert, ganze Bezirke dem Erdboden gleich gemacht, Zivilisten wehrlos auf der Straße getötet oder bei lebendigem Leibe verbrannt. Es addieren sich hierzu Verfolgungen von all jenen, die der Doktrin Erdogans kritisch gegenüberstehen, darunter Abgeordnete der progressiven HDP, deren Immunität aufgehoben wurde, Journalisten und Akademiker. Der Westen beschränkt sich auf milde Mahnungen zur Rechtsstaatlichkeit.
Der Putsch als Legitimation der Präsidialdiktatur
Mit dem jüngsten Putschversuch hat diese repressive Politik eine neue Dimension erreicht. Die Armee setzt den Krieg in Kurdistan, auch grenzüberschreitend in den Nordirak, fort. Etwa 50.000 Lehrer, Soldaten, Polizisten, Richter und Staatsanwälte sind seit dem Putsch suspendiert oder festgenommen worden, für 1500 Dekane wurde die Demission angeordnet, gegen Akademiker ein Ausreiseverbot verhängt. Erdogan ruft zur Denunziation von andersdenkenden Menschen im In- und Ausland auf, unterstützt Forderungen zur Wiedereinführung der Todesstrafe und hat einen dreimonatigen Ausnahmezustand im ganzen Land ausgerufen; letzteres ermöglicht ihm, per Dekret zu regieren.
Abdullah Öcalan als Schlüsselfigur für Demokratie
Der auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte PKK- Vorsitzende Abdullah Öcalan hatte bereits im Vorfeld auf die Putschgefahr und damit einhergehende Konsequenzen verwiesen. Schon seit Monaten wird der Familie sowie den Anwälten und Abgeordneten der im Rahmen der Friedensgespräche gegründeten Imrali-Delegation ein Besuch auf der Insel verweigert. Was in der Putschnacht auf Imrali geschah, ist unklar. Die Aussagen der Regierung, es habe keinerlei Vorfälle gegeben, sind in Anbetracht der Entwicklungen unglaubwürdig. Im Wissen um die Schlüsselposition Öcalans für eine politische Lösung der kurdischen Frage und damit Demokratisierung der Türkei sowie des Mittleren Ostens muss die Totalisolation umgehend beendet werden.
Der Westen schweigt
Der von diversen Konfliktlinien gezeichnete Mittlere Osten ist mit dem Putsch endgültig um eine Diktatur reicher geworden, Erdogans Präsidialsystem de-facto installiert. Die Reaktion des Westens ist auch nach dem Putsch verhalten. Wie schon beim Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei – propagiert als Lösung der Flüchtlingsfrage, tatsächlich aber Generator neuer Fluchtwellen – stehen geostrategische und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund.
Die Kurden als Bündnispartner
Eine Unterstützung der progressiven Kräfte in der Türkei und im Mittleren Osten ist jedoch unabdingbarer denn je. Als sicherer Stabilitätsfaktor und fortschrittlicher Akteur in der Region sind die Kurden, die stets auf einen dritten, alternativen Weg setzen, militärische sowie zivile Diktaturen ablehnen und die effektivste Kraft im Kampf gegen den IS darstellen, ein wichtiger Bündnispartner.
Politikwechsel des Westens gefordert
Doch statt diese zu unterstützen, setzt Deutschland weiterhin auf Ausgrenzung und Kriminalisierung. Hier ist ein grundlegender Politikwechsel erforderlich. Der Westen, allen voran Deutschland in seiner Führungsposition, muss klar Stellung beziehen und Initiative ergreifen. So wie der Putsch verurteilt wird, ist auch eine Präsidialdiktatur völlig inakzeptabel.
Die Alternative – der dritte Weg der Kurden
Wir Kurdinnen und Kurden werden den dritten Weg gehen – demokratische Autonomie versus konfessionell und ethnisch konnotierter Staatsdoktrin, regionale Selbstverwaltung versus Präsidialdiktatur – und unseren Kampf für Frieden, Freiheit und Demokratie entschlossen fortsetzen.
Wir fordern:
die Etablierung rechtsstaatlicher Prinzipien in der Türkei
die umgehende Rückkehr an den Verhandlungstisch für eine politische Lösung der kurdischen Frage
Freiheit für Abdullah Öcalan und alle politischen Gefangenen
weitere Informationen unter: civaka-azad.org/ und isku.org
NAV-DEM – Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e.V.