Veranstaltungsreihe zu JINWAR in England

Veranstaltungsreihe zu JINWAR in England JINWAR ist ein freies Frauendorf, das momentan in Dirbêsiyê (Rojava/Nordsyrien) von Frauen für Frauen gebaut wird. Auf einer Veranstaltungsreihe in England wurde das Dorfprojekt vorgestellt.

Als ein Projekt der Frauenbewegung in Rojava, welches inmitten des Krieges und der Zerstörung durch patriarchale Gewalt verwirklicht wird, spielt der Aufbau einer Oase der Freiheit für Frauen basierend auf dem demokratischen, ökologischen und frauenbefreienden Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung eine historische Rolle.

Veranstaltungen in London, Cambridge und Brighton

In den vergangenen Tagen wurden Seminare zu JINWAR in verschiedenen Städten im Vereinigten Königreich gehalten. Die Veranstaltungen wurden von verschiedenen lokalen Gruppen in London, Cambridge und Brighton organisiert. Die erste Veranstaltung in London fand im Kurdischen Gemeinschaftszentrum in Harringay mithilfe des Frauenrates Roj statt.

Eine zweite Veranstaltung wurde auf Anfrage verschiedener demokratischer Frauengruppen verwirklicht. In Cambridge organisierten Studentinnen der Kurdischen Studierendengesellschaft der Universität Cambridge die Veranstaltung an der Soziologiefakultät gemeinsam mit der Seminarreihe für Kritische Theorie und Praxis. Eine Liveübertragung fand über den Facebook-Kanal der großbritannienweiten Kurdistan Solidarity Campaign statt.

Die Veranstalter der anschließenden Präsentation in Brighton waren Brighton Kurdistan Solidarity. Insgesamt besuchten Hunderte Menschen die Seminare.

Die Aktivistin Nahide, die die Präsentationen hielt, hielt sich drei Jahre in Rojava auf nahm aktiv am Aufbau kommunalökonomischer Projekte und Arbeiten teil. Vor dem Beginn des Frauendorfprojektes JINWAR beteiligte sie sich am Aufbau von Subsistenzwirtschaftsarbeiten im Bereich der Landwirtschaft im Kanton Cizire.

Ein bewusstes, ideologisches Ereignis

Sie begann ihre Präsentation, indem sie die Teilnehmerinnen mit dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Kontext, in dem sich JINWAR als autonomes Frauendorf gestaltet, bekannt machte. Man solle sich die patriarchalen, autoritären und neoliberalen Praktiken des Staates, der Regierung und der sozialen Mentalitäten vor Augen halten, um die Bedeutung von JINWAR schätzen zu können. Der Versuch, ein befreites Leben für Frauen zu organisieren und aufzubauen, sei ein bewusstes, ideologisches Ereignis, welches eine historische Rolle zu spielen habe. Immerhin hätten die gewalttätigen Vergewaltiger und Mörder des IS die Frau als ihr Hauptziel angegriffen. Doch es sei die Organisiertheit der freien Frau, die zuerst in Kobane und zuletzt in Raqqa und Dêra Zor die Dschihadisten besiegt habe.

Monokultur, Kolonialisierung und Ausbeutung

Nahide berichtete von der Monokultur, internen Kolonialisierung, wirtschaftlichen Ausbeutung und den aggressiven chauvinistischen Politiken des repressiven Baath-Regimes. In ihrer Präsentation verdeutlichte sie, wie die ökonomische Praxis des Staates in den kurdischen Regionen dazu diente, Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen, lokale, kommunale, solidarische Wirtschaftssysteme zu zerstören und somit die Bevölkerung durch Assimilationspolitik und Neoliberalismus von Natur und Ökologie zu trennen.

Korrumpierung der gesellschaftlichen Ethik

Indem im Kanton Cizire beispielsweise nur der Anbau von Weizen geduldet wurde, machte der Staat die Bevölkerung von der zentralen Wirtschaft abhängig, die sie ausbeutete. Die Menschen konnten selbst nach der Befreiung zunächst nicht glauben, dass man in der Erde auch andere Produkte anbauen könne. Die rassistische Politik des arabischen Nationalismus, der von der Baath-Regierung propagiert wurde, reflektiere die wirtschaftliche Arbeitsaufteilung bis vor kurzem: Kurden, denen in den 1960er Jahren die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, arbeiteten ohne jegliche Arbeitsrechte auf Feldern, die arabischen Großlandbesitzern übertragen wurden. Die ungerechten wirtschaftlichen Bedingungen haben zur Korrumpierung der gesellschaftlichen Ethik und Solidarität geführt und unter der Zerstörung der kommunalen Gesellschaftsstrukturen haben vor allem die Frauen gelitten. Dies sei am deutlichsten an der extremen feudal-patriarchalen Gewalt an Frauen sichtbar. Heute sehe man in der gleichen Region Frauen, die ihre selbst angebauten eigenen Tomaten, Auberginen, Paprikas und anderes Gemüse selbst auf den Markt tragen.

JINWAR als ein Selbstverteidigungsmechanismus

Eine gesunde, solidarische und gerechte Gesellschaft sei nur dann erreichbar, wenn die Sozialität der Gemeinde auf gemeinsamen, gewissenhaften Arbeiten beruhe, die der Gesamtheit der Gesellschaft dienen. Am Beispiel von Südkurdistan sehe man die Gefahren, die eine Wirtschaft ohne Produktion mit sich bringe. Man könne JINWAR also als ein Selbstverteidigungsmechanismus gegen patriarchale, staatliche und kapitalistische Strukturen, die sich gegen Frauen, Völker und die Natur richten, verstehen.

Ein gemeinsames Projekt

Das Dorfprojekt wird bereits seit einigen Jahren geplant und kommt als gemeinsames Projekt der verschiedenen Organisationen der Frauenbewegung in Rojava zusammen. Darunter sind der Dachverband der Frauenbewegung, Kongra Star, die Stiftung der Freien Frau in Rojava (WJAR), die Mala Jin (Frauenhäuser), das Komitee der Gefallenenfamilien, Jineolojî sowie Frauen aus den Munizipalitäten und dem Diplomatie-Komitee. Ebenfalls seien Freiwillige außerhalb von Rojava aktiv beteiligt.

Man habe viele ähnliche Bestrebungen auf der Welt untersucht und sei immer noch dabei, verschiedene Modelle zu recherchieren. Ziel sei es, das Dorf mit den vorhandenen Mitteln so ökologisch wie möglich zu gestalten, auch wenn die Kriegsbedingungen und das Embargo einige Hürden darstellten. Es werde versucht, möglichst viel von den natürlichen Bedingungen vor Ort zu profitieren, indem lokale Mittel und vorhandenes Baumaterial verwendet werde.

Aufbau und Verteidigung

Die Häuser werden mit selbstgemachten Lehmziegeln gebaut. Man sei bemüht, jahrtausendalte Bautraditionen mit moderneren Mitteln zu kombinieren. Hierbei hätten die 9.000 -12.000 Jahre alten Siedlungsgebiete in der Region um Rojava hilfreiche Lehren geboten. Einen Monat lang seien endlose Diskussionen geführt worden, um über die Form der Häuser, Materialien, etc. zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen.

Die Frage „Was für ein Leben?“ hätte JINWARs Aufbau motiviert und somit die Diskussionen zur Struktur, Logik und Verwaltung des Dorfes strukturiert. Bereits 21 der geplanten 30 Häuser seien fertiggestellt. Nicht nur die Planung, Verwaltung und der Aufbau sei von Frauen gehandhabt worden, sondern ebenfalls der Schutz und die Verteidigung. Nach dem Winter sollen die Aufbauarbeiten weitergehen. Die Fertigstellung des Dorfes sei für den Sommer 2018 geplant. Bereits jetzt haben Tausende Menschen die Baustelle besucht und sogar der 8.März sei bereits dort gefeiert worden.

Ein Versuch aus dem Nichts

JINWAR ist laut Nahide ein Ausdruck der Kreativität, Mühen und Produktivität kollektiv denkender und handelnder freier Frauen und leistet einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung. Mit dem Aufbau eines autonomen Frauendorfes habe man nicht vor, die Frau von der Gesellschaft zu isolieren. Im Gegenteil sei dies ein Versuch, aus dem Nichts, die Möglichkeit eines Lebens mit der Logik und dem Willen der Frau aufzubauen.

Nicht Abspaltung, sondern ein freies Zusammenleben

JINWAR sei eine Antwort auf die Frage, wie der kollektive Wille der befreiten Frau materielle Form annehmen kann. Man habe sich ebenfalls damit auseinandergesetzt, ob ein gesondertes Frauendorf wie JINWAR von patriarchalen Mentalitäten instrumentalisiert werden könnte. Beispielsweise wolle man verhindern, dass die Abschiebung von Frauen in autonome Frauensphären ein Verständnis der Segregation erzeugen könne. Die Aktivistin machte deutlich, dass die getrennte, autonome Organisation von Frauen ein Mittel dazu sei, ein freies Zusammenleben der Geschlechter zu verwirklichen, indem man zunächst Solidarität und Selbstverwirklichung unter Frauen in freien Sphären leben wolle. Nicht Abspaltung, sondern ein freies Zusammenleben („hevjiyana azad“), basierend auf freien Bedingungen, sei das ultimative Ziel.

Ein eigenes Wirtschafts- und Bildungssystem

Die 30 Frauen mit ihren Kindern wurden nach langen Diskussion und gemeinsamer Entscheidung ausgesucht. Unter ihnen sind junge Frauen, ältere Frauen, oft mit vielen Kindern, die aus ärmeren Bedingungen kommen und zuvor Gewalt erfahren haben. Abgesehen von den Häusern, Grünflächen und öffentlichen Plätzen seien eine Akademie, eine Schule und ein Versammlungsort für den Frauenrat, über den sich das Dorf selbstverwalten wird, geplant. Die Lebensmittel des Dorfes sollen vor Ort produziert werden, mit dem Ziel einer sich selbst ausreichenden Verpflegungsökonomie. Außerdem werde ein eigenes pädagogisches Bildungssystem erstellt.

Ebenfalls am Aufbau beteiligt seien aus Raqqa geflohene arabische Frauen. Durch einen solidarischen Tauschhandel seien herzliche Beziehungen zu diesen Frauen aufgebaut worden, die kurz zuvor noch unter den IS-Faschisten leben mussten.

Fundament für eine freie Gesellschaft

Auf die Frage, wie man das Projekt unterstützten könne, antwortete die Aktivistin, dass vor allem die politischen Bedingungen, unter denen die Demokratische Föderation Nordsyriens ein demokratisches Zusammenleben ermöglichen wolle, hinterfragt werden müssten. Inmitten von Krieg und Embargo versuche man die verschiedenen Bevölkerungsgruppen durch demokratische Prinzipien zusammenzuführen und werde dennoch von wichtigen internationalen Entscheidungsprozessen wie der Genfer Konferenz zur Lösung des Syrienkonflikts konsequent ausgeschlossen. JINWARs Nachhaltigkeit könne nur dann garantiert werden, wenn auch das basisdemokratische System in Rojava und im Norden Syriens gelinge. Es mache keinen Sinn, hinterher um das so schöne Projekt zu trauern, wenn eines Tages die türkische Regierung die Region um JINWAR bombardiere. Vielmehr müsse heute etwas gegen die Übergriffe auf die Region unternommen werden. Vor allem aber solle man sich ein Beispiel an JINWAR nehmen und die Entwicklungen verfolgen, denn dort werde das Fundament für eine emanzipierte, freie Gesellschaft gelegt.

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