TEIL I.
STRASSBURG – Der PYD (Partiya Yeketîya Demokrat – Partei der demokratischen Einheit) Ko-Vorsitzende Saleh Muslim sprach mit ANF über die Waffenruhe in Syrien, die anhaltenden Angriffe der Türkei auf Rojava, die Diskussionen über den Föderalismus und die Beziehung zu Russland und den USA.
Muslim erklärte, dass ihnen Beweise vorliegen, nach denen die Türkei an den Angriffen des IS auf Girê Spî beteiligt war und betonte, dass die Türkei erneut versucht ihre bisherigen Misserfolge wett zu machen.
Wir veröffentlichen hiermit den ersten Teil der deutschen Übersetzung des Interviews mit dem PYD Ko-Vorsitzenden.
Wie ist die aktuelle Situation in Syrien seit der Waffenruhe am 27. Februar wirklich?
Die eigentliche Idee war es, die Zusammenstöße und Gefechte zu deeskalieren, statt eine umfassende Waffenruhe zu erreichen. Dieser Gedanke beruht darauf, dass der IS und al-Nusra, zwei der Hauptkräfte, terroristische Gruppen sind, die nicht an einer umfassenden Waffenruhe und den dazugehörigen Verhandlungen beteiligt werden können. Daher stellt sich die Situation als kompliziert dar. Hinzu kommen weitere kritische Gruppen, wie Ahrar-u Sham, Sultan Faith und Sultan Murat. Mittlerweile ist bekannt, dass diese Gruppen an Al Qaeda angegliedert sind. Das Ziel ein Waffenruhe war es, die Bombardierung dieser Gruppen durch Russland zu unterbinden. Es besteht eine Bestreben nach Waffenruhe, vor allem in der Gegend um Damaskus. Uns Kurd_innen betrifft diese Waffenruhe jedoch kaum, da diejenigen, die gegen uns kämpfen, keine Waffenruhe wollen und an den Verhandlungen nicht teilgenommen haben. Ein Grund dafür ist, dass Gruppen wie beispielsweise die Freie Syrische Armee (FSA) keine Fronten mit uns hat. Zur Zeit konzentrieren sich die Gefechte in Raqqa, im Kanton Kobanê, in Girê Spî und Shaddadi, also überall dort, wo sich der IS befindet. Bei Azaz im Nordwesten zwischen den Kantonen Efrîn und Kobanê wird der Kampf gegen al-Nusra fortgesetzt. Aus diesen Gründen hat die aktuelle Waffenruhe so keine Bedeutung für uns. Zudem setzen sich die Gefechte und Zusammenstöße an den Grenzen des bisher befreiten Gebietes trotz der Waffenruhe fort.
Nach Erklärung der Waffenruhe folgte ein Großangriff auf Girê Spî. Was denken Sie war das Ziel dieser Aggression?
Gewisse Kreise wollen eine Waffenruhe um jeden Preis verhindern und schrecken nicht davor zurück, dafür auch solche Angriffe zu führen, um erneut Konflikte zu erzeugen.
Welche Kreise?
Die Türkei, Saudi-Arabien und die mit ihnen verbundenen Gruppen. Es kam zu zwei zentralen Vorfällen nach Erklärung der Waffenruhe, zum einen der Angriff auf Girê Spî, zum anderen die Grenzüberschreitung der IS Kämpfer nach Rojava von der Türkei aus. Einige Quellen berichten über hunderte, andere über tausende Personen, denen geholfen wurde von der Türkei nach Rojava einzudringen. Daher die komplizierte Lage und die anhaltenden Kämpfe und letztlich zeigt dies, wer kein Interesse an einer Waffenruhe in Syrien hat. Der türkische Staat stellt Waffen und Freiwillige für den IS und al-Nusra zu Verfügung. Die bisher von den Demokratischen Kräften Syriens (HSD/SDF – Hêzên Sûriya Demokratîk – Syrian Democratic Forces) befreiten Gebiete von Efrîn und Azaz werden unaufhörlich unter Artilleriebeschuss gesetzt. Obendrein hat der ürkische Staat mit dem neuesten Angriff auf Girê Spî seine Absicht deutlich offenbart.
Offiziele türkische Vetreter_innen haben ihre Freude über eine Waffenruhe in Syrien bekundet. Dennoch sagen Sie, dass die Türkei hinter dem Angriff auf Girê Spî steckt. Haben Sie Dokumente, die dies belegen?
Wir haben Beweise, darunter Videos und Fotos, die diese Beschuldigung belegen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Dutzende von Angreifern am türkischen Grenzübergang nach Girê Spî getötet wurden. Die YPG (Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten) hat dies dokumentiert und festgehalten. Abgesehen davon, sind die Handlungen der Türkei diesbezüglich nicht neues. Daher gibt es auch eigentlich keinen Grund für erneute explizite Beweise. Täglich sendet der türkische Staat Waffen an die terroristischen Banden in Syrien und ermöglicht ihre Fahrt nach Syrien. Er tut dies vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Die Türkei erzählt ihre Lügen, aber die Öffentlichkeit weiß mittlerweile, dass die Handlungen der Türkei nicht mit ihren Märchen übereinstimmt.
Was genau will die Türkei in Syrien?
Die Türkei muss noch erklären, was sie wirklich will. Unserer Meinung nach will die Türkei in Syrien die demografische Struktur ändern. Sie will verhindern, dass die Kurd_innen in Syrien eine Autonomie und eigene Rechte erlangen. Sie will Syrien sogar zu einem Teil des ‚Neuen Osmanischen Reiches‘ machen. Dies ist die Absicht von Erdoğan, der nun seine ganze Politik auf die Leugnung und Vernichtung der Kurd_innen konzentriert, nachdem seine bisherigen Pläne gescheitert sind.
Warum hat die Türkei solche Angst vor den Kurd_innen in Rojava?
Die Türkei hat vor allen Kurd_innen Angst, nicht nur vor denen in Rojava. Diese Angst gab es schon lange vor Erdoğan. Offizielle Vertreter_innen des türkischen Staates machten Bemerkungen wie: „Wir würden sogar Einwand erheben, wenn ein Kurde zufällig Rechte in Südafrika zugesprochen bekommen würde“. Diese Perspektive wird in Erdoğan’s heutiger Politik unübersehbar.
ANF, 05.03.2016, ISKU