TEIL II.
STRASSBURG – Der PYD (Partiya Yeketîya Demokrat – Partei der demokratischen Einheit) Ko-Vorsitzende Saleh Muslim sprach mit ANF über die Waffenruhe in Syrien, die anhaltenden Angriffe der Türkei auf Rojava, die Diskussionen über den Föderalismus und die Beziehung zu Russland und den USA.
Muslim erklärte, dass ihnen Beweise vorliegen, nach denen die Türkei an den Angriffen des IS auf Girê Spî beteiligt war und betonte, dass die Türkei erneut versucht ihre bisherigen Misserfolge wett zu machen.
Wir veröffentlichen hiermit den zweiten Teil der deutschen Übersetzung des Interviews mit dem PYD Ko-Vorsitzenden.
Was ist die derzeitige Situation der Friedensgespräche?
Die Gruppen in Syrien können nicht unabhängig von den Mächten handeln, die ihnen finanzielle und logistische Unterstützung zur Verfügung stellen. Und diese Mächte haben Pläne. Saudi- Arabien, die Türkei und Amerika haben ihre eigenen Pläne und jeder versucht sie zu verwirklichen, was nicht funktionieren wird, weil all diese Pläne für Syrien faul sind und stinken. Die haben ihren Ursprung im Westen und Europa. Sie versuchen die Lage unter ihrer Kontrolle zu behalten, um eine Spiegelung auf Europa zu vermeiden. Darauf sind all ihre Anstregungen gerichtet.
Russland und die USA haben verschiedene Pläne für Syrien. Haben die Kurd_innen in Rojava ihre Eigenen?
Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir innerhalb der Probleme des Mittleren Osten und Rojavas verortet sind. Momentan sind wir die einzige Kraft, die auf eine bewusste, programmatische und geplannte Weise handelt. Seit dem allerersten Tag an haben wir für niemanden Partei ergriffen. Während einige das Baath Regime unterstützten, haben andere in Manier der Jihadisten gehandelt. Angesichts dieser Entwicklung haben wir unsere eigenen Verteidigungsmaßnahmen getroffen und die demokratische Autonomie ausgerufen, die im Laufe der Zeit stark gewachsen ist und anerkannt wird. Zudem haben sich die Demokratischen Kräfte Syriens (HSD/SDF- Hêzên Sûriya Demokratîk/ Syrian Democratic Forces) und Räte gebildet, die zusätzlich zu den Kurd_innen alle Kreise einschließt. Unser Modell ist eines für ganz Syrien geworden. Richtig, wir suchen Freiheit und Rechte für Kurd_innen und aus diesem Grund kämpfen wir, aber wir haben nicht vor, allein in unserem Haus zu leben. Demokratie für Rojava kann nur erreicht werden, wenn es Demokratie und Freiheit in ganz Syrien gibt. Wenn wir ein demokratisches System in Nachbarschaft zum IS (Islamischer Staat) in Raqqa erschaffen, würden wir nie im Frieden leben und dauernd Angriffen gegenüberstehen. Deshalb fordern wir für Syrien ein säkulares System, in dem verschiedenste Gesellschaften wie Muslime, Alevit_innen und Jesid_innen ein zuhause haben. Deshalb sollte ein System errichtet werden, das die Koexistenz all dieser Gesellschaften sicherstellt.
Wie bewerten Sie die Diskussionen über den Föderalismus für Syrien?
Jeder sollte wissen, dass Syrien nie mehr so sein wird, wie es war. Die Büchse der Pandora wurde bereits geöffnet. Diejenigen, die nach ihrer eigenen Zustimmung gewillt sind, in Syrien zu leben, werden dort bleiben. Das kann nur erreicht werden, in dem jede_r seine eigene Farbe und Identität bewahrt. Föderalismus ist auch eine Methode, aber sie wird von jedem nach den Normen seiner Absicht gedeutet, und diese fokussiert die Diskussion auf Grenzen. Wir aber gehen nicht auf den geografischen Föderalismus ein, sondern auf einen Föderalismus, der auf Völker beruht und ihnen ein Leben in ihren eigenen Bereichen im Rahmen ihrer Rechte ermöglicht. Föderalismus hat verschiedene Formen. Um ein Beispiel anzuführen, der Föderalismus in Russland, Deutschland, Amerika und der Schweiz sind nicht das Selbe. Sie unterscheiden sich voneinander. In dem föderalen System, das wir schaffen wollen, braucht jede_r Respekt und das Zusammenleben. Es könnte Föderalismus oder auch anders genannt werden, das ist egal. Einige nennen es Föderalismus, und wir nennen es im Moment demokratische Autonomie. Unser jetziges System wird weithin wahrgenommen. Wir wollen, dass es darüberhinaus geht und sich über das ganze syrische Gebiet ausbreitet.
Diese Diskussion deutet auf 3 föderale Regionen in Syrien, welche vielleicht eine geografische Veränderung mit sich bringt. Wollen sie das nicht?
Wir fordern keine geografische Veränderung, sondern ein System, das die Koexistenz aller Gesellschaften durch das genießen der gleichen Rechte ermöglicht. Hat Rojava zur Zeit Grenzen? Nein, hat es nicht. Beispielsweise wollen diejenigen, die um Shaddadi herum leben ihr eigenes System und ihre eigenen Räte bilden. Es gibt keine Grenzen in Rojava. All jene, die diese Realität akzeptieren, können aktiv mit und in ihrer eigenen Kultur leben.
Ist die Verbindung der Kantone Kobanê und Efrîn eines ihrer Hauptziele?
Definitiv, ja.
Es bestehen Beziehungen sowohl zu den USA, als auch zu Russland, beide Mächte mit ihren eigenen Plänen für Syrien. Wie sehen diese beiden Beziehungen genau aus?
Wir führen Beziehungen zu beiden Staaten, genauso wie zu verschiedenen europäischen Ländern. Jeder dieser Staaten hat seine eigenen Interessen. Die Vereinigten Staaten haben eindeutige Interessen am Mittleren Osten, vor allem wirtschaftlich. Russland betreibt seine Bestrebungen vor allem aus Sicherheitsgründen, da die meisten Jihadisten, die hier kämpfen, aus der Russischen Föderation kommen. Einige andere gehen nach ihrer Ausbildung dorthin zurück. Davor hat Russland Angst, aus diesem Grund führen Russland auch den konsequentesten Kampf gegen den Terrorismus. Und wie alle Kräfte die in Syrien wirken, haben auch wir unsere eigenen Interessen. Und wir alle kämpfen gegen den IS.
Gibt es irgendwelche „Zugeständnisse“ oder „Verwerfungen“ in diesem Kreis der verschiedenen Mächte und Kräfte?
Natürlich. Wir Kurd_innen haben in der Geschichte für jede_n gekämpft, außer für uns selbst. Aber auch wir haben unsere Heimat, unser Land. Geographisch mag es kleiner sein als die Vereinigten Staaten oder Russland, aber es gehört uns. Wenn diese Mächte ein Interesse an dieser Region haben, dann müssen sie sich mit uns einigen. Unsere Gespräche beruhen auf unseren Interessen. Dies ist Politik und wir handeln so, wie es die Realität verlangt.
Mittlerweile erkennen alle internationalen Mächte sie an und wollen Beziehungen mit ihnen aufbauen. Dennoch beharrt die Türkei darauf, dass sie Terroristen sind. Was antworten Sie darauf?
Das Problem der Türkei ist eine Kurdophobie. Wir hätten viele Dinge mit und in der Türkei anrichten können, seitdem sie diesen Krieg erklärt hat. Aber wir sind Nachbarn, wir haben zur Zeit eine staatliche und territoriale Grenze. Das ist eine Verantwortung, die uns durch die Geschichte auferlegt wurde. Doch anscheinend hat der türkische Staat die Geschichte und die Geographie vergessen. Daher verliert sie zur Zeit eigentlich nur noch. Und wir hoffen, dass die Türkei aus ihren Fehlern lernen und sie korrigieren wird.
Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Annährung entwickeln, wenn die Türkei ihre Angriffe auf Rojava fortsetzt und weiterhin jihadistische Gruppen unterstützt?
Wir werden die Annäherung zur Türkei aufrechterhalten, so wie wir es bisher auch getan haben. Wir widerstehen den Angriffen und feuern nicht zurück, da auf der anderen Seite der türkischen Grenze ebenfalls Kurd_innen leben. Die Türkei zerstört die zivilen Bereiche unserer Leben. Wo werden wir auf wenn zurückschlagen? Es sind Kurd_innen die dort leben und im Falle einer Reaktion von uns verletzt werden. Die Türkei hat sich blamiert. Die internationalen Mächte wissen ganz genau, wer wir sind und wofür wir stehen.
ANF, 06.03.2016, ISKU
https://www.youtube.com/watch?v=jzV8z8WtczE