Der Flüchtlingsverein GÖÇ-DER AMED hat seinen Bericht über Nisêbîn (Nusaybin) veröffentlicht. Nach der Einschränkung der über Nisêbîn verhängten und immer noch andauernden Ausgangssperre hat der Verein GÖÇ-DER AMED GÖÇ-DER AMED besucht. Ihr jetzt vorgelegter Bericht fußt auf den dort gesammelten Eindrücken und Gesprächen, die sie mit den dortigen Co-BürgermeisterInnen, Dorfvorstehern und der Bevölkerung führte.
Die in Nisêbîn seit mehr als 3 Monaten anhaltende Ausgangssperre gilt seit dem 25. Juli noch in der Nacht. Die sechs Stadtteile, in denen die Ausgangssperre weiterhin über 24 Stunden anhält, sind durch einen aufgestellten Maschendrahtzaun von den übrigen Vierteln getrennt. Es wurde beobachtet, dass an diesem vermehrt türkische Fahnen angebracht sind. In der Zeit der Ausgangssperre und der militärischen Operation waren 80% der Bevölkerung von Nisêbîn gezwungen worden ihre Stadt zu verlassen. Seit Einschränkung der Ausgangssperre kehren die zurück, die noch einen Platz zum Wohnen vorfinden. BewohnerInnen der weiterhin gesperrten Viertel betonten gegen über GÖÇ-DER, das auch sie in ihre Viertel zurückkehren möchten. GÖÇ-DER hat in seinem Bericht festgehalten, dass alle Stadtteile Schäden durch Artilleriebeschuss aufwiesen. Es spiele dabei auch keine Rolle, ob es in den betreffenden Vierteln Auseinandersetzungen gegeben habe oder nicht. Auf den Mauern beschädigter Häuser und Arbeitsstätten seien häufig Schmierereien mit rassistischen und hasserfülltem Inhalt zu sehen. Neben der Zerstörung von Wohnungen und Häusern wären auch häufig die Zerstörung des in der Wohnung zurückgebliebenen zu beobachten gewesen, oder eben auch das vieles fehlt. In den sechs Stadtteilen, die weiterhin abgeriegelt sind, gibt es Vermisste. Möglicherweise sind sie zu Tode gekommen und liegen noch irgendwo in den Straßen und Häusern im Sperrgebiet.
Ein Interview mit Ayşe Şaman, einer 70-jährigen Frau die zusammen mit ihren Kindern während der Ausgangssperre in Nisêbîn ausgeharrt hat, verdeutlicht die Bedeutung der Tage der Ausgangsspeere. Sie berichtet: „An einem Morgen erwachten wir und sahen, dass wir mit Panzern, Artellerie und schweren Waffen umstellt waren. Die Ausgangssperre war verhängt, wir konnten nicht mehr raus. Ab der Mittagszeit begannen sie (türkische Sicherheitskräfte) in unsere Häuser einzudringen. Sie wollten die Bevölkerung zwangsweise aus ihren Wohnungen vertreiben. Aber wir wehrten uns, sagten, wir lassen uns nicht vertreiben. Trotz allen Drucks, der auf uns ausgeübt wurde, sind wir geblieben. Die Sicherheitskräfte sind dann in die Wohnungen derer die zwangsvertrieben wurden gegangen und haben deren Besitz geraubt, zerstört und verbrannt. Anschließend begann der große Angriff. Der Angriff begann am Tag der Verhängung der Ausgangssperre um die Mittagszeit. Er war sehr heftig. Er war im Vergleich zu den Ausgangssperren zuvor viel stärker als sonst. Sie setzten von Beginn an Panzer und Artellerie ein.“
In den darauf folgenden Wochen habe der Staat viele Verluste verkraften müssen und seine Kräfte daraufhin zurückgezogen. „Eines Tages sahen wir, dass sie sich zurückzogen und nicht mehr kämpften konnten. Um voran zu kommen setzten sie jetzt schwere Waffen ein. Dann kamen sie mit Panzern in die Viertel und schossen willkürlich um sich. Wir erlebten furchtbare Momente. Der Staat hat in Nisêbîn nicht einen Stein auf dem anderen gelassen. Sie begannen auch Bereiche, in denen es keine Barrikaden gab, aus Panzern heraus zu beschießen. Als die Kräfte des Staates sich zurückzogen, begannen sie mit Flugzeugen Nisêbîn zu bombardieren. Es war wie im Krieg. Gebäude flogen in die Luft, die Stadt wurde unter dem schweren Bombardement verbrannt und zerstört.“
Auf die Frage ob sie auch Mitglieder von zivilen Selbstverteidigungskräfte YPS und YPS-Jin gesehen habe erklärte sie: „Natürlich. Manchmal haben wir sie zu Gesicht bekommen. Um ihren Mut zu beschreiben, reichen Worte nicht aus. Ihre Solidarität untereinander, ihre Opferbereitschaft für einander war unbeschreiblich. Sie haben auch nicht einen Augenblick lang sich gebeugt, waren immer voller Zuversicht, haben keinen Schritt zurück gesetzt und ihre Stellungen nicht verlassen. Über Wochen konnte der Staat nicht voran kommen. Hunderte von Granaten wurden gleichzeitig vom Staat verschossen. Um eine Barrikade zu räumen setzten sie Panzer und unzählige schwere Waffen ein. Hubschrauber stiegen auf und bombardierten. Aber die YPS ist sofort dagegen angegangen und hat den Angriff zurückgeschlagen. Ich bin jetzt 70 Jahre alt, aber einen solchen Widerstand habe ich zuvor weder gesehen noch davon gehört. Es waren alles ganz junge Menschen, Nisêbîn Kinder. Alles Kinder die groß wurden in diesen Straßen und in diesen Vierteln. Unter ihnen war keiner von der Guerilla. Es gab welche von außerhalb. Das waren Studierende, ArbeiterInnen, kurdische werktätige Jugendliche. Sonst niemand. Trotzdem haben sie Widerstand geleistet gegen eine große Armee, gegen Artilleriebeschuss, Panzer und Luftangriffe.“
Über ihren eigenen Alltag unter Bedingungen der Ausgangssperre angesprochen erzählt sie, sie durften nicht ihre Wohnung verlassen: „Sie hatten uns gesagt, wenn wir unsere Wohnungen verlassen werden wir getötet. Unser Haus wurde willkürlich beschossen, es wurde Gas eingesetzt. Obwohl Fenster und Türen verschlossen war drang das Gas ein und wir litten. Sie taten uns schweres an, aber wir leisteten unter einander Solidarität. Die Bevölkerung von Nisêbîn ist nicht zurückgewichen. Wir haben uns zusammen geschlossen und uns nicht vor den Angriffen gebeugt. Wir haben alles miteinander geteilt, zusammen Widerstand geleistet. Wenn einer Brot gebacken hatte, hat einer unter dem Kugelhagel des Staates den anderen davon gebracht. Obwohl wir hundertfach dem Tod von Angesicht zu Angesicht standen, haben wir dem anderen zu Essen und Wasser gebracht. Uns aufmunternde Worte gespendet und uns gegenseitig versichert, dass wir Nisêbîn nicht verlassen werden. Staatliche Hilfe haben wir in dem Zeitraum nicht angenommen und haben uns mit unseren eigenen Möglichkeiten auf den Füßen gehalten.“
Den Einsatz von unbekannten militärischen Gruppen und Dorfschützern bestätigt sie. Sie berichtet von „Fremden mit langen Bärten. Sie ähnelten den Banditen des IS, sie waren besonders unerbittlich. Wir hatten von ihnen gehört und haben sie ab und an auch mit eigenen Augen gesehen“. Für die Dorfschützer hat sie nur Verachtung. Und erklärt: „Der Staat ist hier nicht von Dauer, früher oder später wird das kurdische Volk seine Freiheit verkünden, dann können die Dorfschützer niemandem mehr ins Gesicht sehen“, sagt sie und fordert sie auf „den Verrat zu lassen und an die Seite des Volkes zu wechseln“.
Sie sagt: „Sie haben mit Panzern, Artellerie und aus der Luft unsere Stadt zerstört, aber wir haben uns ihnen nicht gebeugt. Wir werden auch in Zukunft unsere Stadt verteidigen, werden an der Selbstverwaltung festhalten. Wir haben hier keine andere Alternative. Wir haben keine andere Alternative als in unserem eigenen Land, auf unserem eigenen Boden in Freiheit zu leben.“
ANF, 30.07.2016, ISKU