Bakur/Nordkurdistan – Was der AKP an der Wahlurne nicht gelang, will sie per Dekret durchsetzen. Die DBP hatte bei den letzten Lokalwahlen an die 100 Bürgermeister stellen können. Die Gegenkandidaten der AKP hatten das Nachsehen und gingen leer aus. Doch den Bürgermeistern der DBP wurde ihr Sieg nicht leicht gemacht. Alle waren mit Amtsantritt einer unglaublichen Repression durch das Regime in Ankara ausgesetzt. Kaum einer ist mittlerweile nicht festgenommen, inhaftiert, zur Fahndung ausgeschrieben und gesucht oder vom Innenministerium des Amtes enthoben worden. Die jüngsten Verhaftungn der Co-Bürgermeister von Amed, Gültan Kışanak und Fırat Anlı, am 25. Oktober, ist so gesehen also nichts ungewöhnliches sondern nur letztes Glied einer Kette von Verhaftungen und Amtsenthebungen. Und doch ist dies etwas anderes. Was die Verhaftung der beiden Co-Bürgermeister besonders macht ist die Tatsache, dass sie nicht Bürgermeister „irgendeiner“ Stadt waren sondern die Bürgermeister von Amed (Diyarbakır). Bei Amed handelt es sich sowohl um das Rathaus einer Provinz und im Besonderen ist Amed die heimliche Hauptstadt der Kurden der Türkei. Mit Amed fällt die letzte Bastion der durch das Volk Gewählten – geraubt im undemokratischen Spiel der AKP –, um von eben dieser mit einem von ihr eingesetzten Treuhänder, Zwangsverwalter, besetzt zu werden. So sehen es zumindest die Bürger von Amed, aber so sehen es auch die Kurden der Türkei. Und was noch wichtiger sein wird: so sehen es die kurdischen Jugendlichen in der Türkei. Und so ist es dann auch nur bezeichnend, wenn Idris Baluken, Abgeordneter der HDP, es als „Wahnsinn“ brandmarkt, „wenn die Regierung glaubt, sie könne Amed mit einem Beamten des Palastes (gemeint ist Erdoğan) regieren“. Ayhan Bilgen, Abgeordneter und Sprecher der HDP, erklärte: „Was zu tun bleibt ist, jenem der den Willen des Volkes für nichtig erachtet, ihn ebenso für nichtig zu erachten.“ Keine leichte Sache. Ist doch die persönliche Haltung, ist die Zivilcourage eines jeden einzelnen Bürgers der Stadt gefragt.
Fakt ist, unter einer Türkei mit einem Ausnahmezustand-Regime wird nicht nur der legale Bereich zusehends enger, er löst sich allmählich gänzlich auf. Und das betrifft nicht nur die Kurden, sondern mittlerweile selbst eine Zeitung wie Cumhuriyet. Cumhuriyet gilt als Grundstein des Staats selbst. Und selbst sie ist nicht mehr sicher vor Verfolgung. Nachdem zuvor bereits duzende Zeitungen, Fernseh- und Radiosender verboten, seit einer Woche auch das Internet in den kurdischen Regionen lahm gelegt wurde, wurden gestern auch erstmalig 18 Funktionäre und Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet verhaftet. Man darf fragen, was hat die CHP nur geritten, als sie an der Ausrufung des OHALs (Ausnahmezustand) in der Türkei mitwirkte. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Ländern sind in der Türkei weder Staatsstreich noch OHAL unbekannt. Keiner kann sagen, die CHP hätte nicht wissen können was die Folgen der Ausrufung des OHALs bedeuten würden. Jeder in der Türkei weiß, was OHAL bedeutet. Und auch die CHP hat es gewusst. War ihr Hass gegen die Kurden gewichtiger als jedwede Vernunft? Nun, es spielt keine Rolle mehr. Ab jetzt stellt sich nur noch eine Frage: Wird sie Widerstand leisten können? In ihrer Identität gibt es Merkmale auf die sie sich berufen kann, um sich dahin gehend zu transformieren. Doch es gibt noch mehr Unzulänglichkeiten die dazu geeignet sind dies zu verunmöglichen, allen voran ihre Haltung gegenüber ihren kurdischen Landsleuten. Die Zeit wird zeigen wie sie damit umgeht und ob sie eine Zukunft haben wird. Widerstand leisten hingegen werden erst einmal wieder die Kurden. Sie verfügen in der Hinsicht über die nötigen Erfahrungen. Die letzten 35–40 Jahre in der Türkei war für sie vor allem eins: die Geschichte ihres Widerstands. Und so bedarf es für sie denn auch keines neuen Mazlum Doğans, der in den Folterkellern des Gefängnisses vom Diyarbakir Licht in das Dunkel einer Diktatur trägt und sie zum Widerstand führt. Sein Licht war nie erloschen. Und selbst die Ko-Bürgermeister in Amed waren nur denkbar im Lichte seines Widerstands.
Doch die Türkei ist nicht mehr die Türkei die sie war, als in den kurdischen Regionen die Bürgermeister der DBP gewählt wurden. Das Regime ist heute ein anderes. Am 8. Juli 2015 riss Erdoğan das Heft an sich und degradierte Regierung und Parlament zum Schattendasein bzw. sie ließen sich dazu degradieren. Keine noch so geartete Militärdiktatur hätte dies besser vermocht als Erdoğan. Der Militärputsch vom 15. Juli? Was immer er auch war, in einem Land, das über Erfahrung verfügt wie ein Militärputsch verübt wird, steht er immer noch als ein Ereignis da mit vielen Fragezeichen. Wo hingegen kein Fragezeichen besteht ist, dass es in der Türkei einen Putsch gegeben hat. Den Putsch des Palastes. Was er der Türkei kosten wird? Das was jeder Putsch einem Land kostet: die Demokratie, die Menschenrechte, die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, eben alles.
Murat Karayılan zumindest hat die Jugend gestern dazu aufgerufen „sich an der Arbeit der Partei zu beteiligen, sich der YPS anzuschließen, sich der HPG anzuschließen“.
ANF, 01.11.2016, ISKU