Von Anja Flach, Ethnologin, 08.11.2016
Während die Befreiung um Mossul durch die irakische Armee und Peschmerga noch andauert, gerät Daesh nun auch in Syrien unter Druck.
Am 6. November gaben die SDF (Demokratische Kräfte Syriens) in einer Presseerklärung bekannt, dass sie eine Operation mit dem Namen „Zorn des Euphrat“ gegen Daesh (auch IS) mit dem Ziel Raqqa zu befreien durchführen werden. Beteiligt seien die YPG, YPJ, der MFS (Suryoye Militärrat), das Raqqa Revolutions-Bataillon und die revolutionäre Brigade von Tel Abyad. Diese Bodenkräfte werden durch die US-geführte Koalition mit Luftschlägen, sowie der Beratung von US-Militärexperten unterstützt. Die SDF wurden ebenfalls mit schweren Waffen, wie Panzern und Raketen ausgestattet. Am selben Tag begann daraufhin die Militäroperation.
Raqqa ist für Daesh sogar noch wichtiger als Mossul. Ist Mossul das ökonomische Zentrum, so liegt in Raqqa seine Kommandozentrale. Hier im Euphrat Tal laufen die Fäden zusammen.
Wenn Daesh Raqqa verliert, ist sein Rückgrat gebrochen, er wird gezwungen sein, sich in die westsyrische Wüste zurückzuziehen.
Raqqa ist jedoch nicht nur für Daesh, sondern für alle internationalen Akteure von strategischer Bedeutung:
Allen voran für Assad und Russland, die Daesh niemals ernsthaft bekämpft haben. Es gibt an vielen Punkten einen de facto Nicht-Angriffspakt. Das von Daesh besetzte Gebiet ist für Assad ein ruhiges Hinterland. Fiele es in die Hände gegnerischer Kräfte, so wäre der Aleppo Streifen von zwei Seiten eingekreist. Dies würde Assads Bemühungen, die Rebellen im Westen zu vernichten, erheblich schwächen.
Während das Regime es durch jahrzehntelange Bemühungen geschafft hat, eine tiefe Kluft zwischen der arabischen und kurdischen Bevölkerung zu erzeugen und mit einer Teile-und-Herrsche-Strategie, Umsiedlungsprojekten und Separatismuspropaganda Angst vor den KurdInnen zu schüren, hat die Befreiung arabischer Städte durch die SDF und die Invasion islamistischer Banden aus der Türkei in den letzten Monaten eher zu einem Zusammenwachsen von kurdischen und arabischen Kräften geführt. Immer mehr arabische Jugendliche sowie Teile der FSA haben sich den SDF angeschlossen.
Die Türkei sieht wie immer die größte Bedrohung in den KurdInnen. So hat sie erneut begonnen, kurdische Städte an der Grenze zu bombardieren, wie zuletzt Dêrîk am 8. November. Die Gefahr einer türkischen Invasion in die Stadt Tall Abyad (kurd. Girê Spî), das jahrelang die Hauptnachschubroute für Daesh in Raqqa war, ist immer noch präsent. Im Frühjahr 2015 hatten die SDF die Stadt von Daesh befreit.
Die Drohgebärden des Erdogan-Regimes
Auf keinen Fall will das Erdoğan Regime, dass sich die Gebietsgewinne der SDF, die überwiegend von den YPG und YPJ getragen werden, noch vergrößern und sie nach Shaddadi, Hol und Manbij auch noch eine weitere arabische Großstadt kontrollieren. Das Erdoğan-Regime droht ständig damit, die von den SDF im August befreite Stadt Manbij zu überrollen, sowie die Stadt Al Bab einzunehmen. Al Bab ist von enormer Bedeutung für Rojava, um die beiden Kantone Cizîrê und Kobanê mit dem Kanton Afrin zu verbinden.
Neben seinen Drohgebärden tobt der türkische Präsident derzeit aber vor allem darüber, dass die USA jetzt die Offensive auf Raqqa mit den SDF begonnen haben. Erdogan, international isoliert, war schon von der Mossul Operation ausgeschlossen worden. Ankara will erneut seine islamistischen und rechtsextremistischen Banden, die auch schon in Nord Aleppo (Region Shahba) einmarschiert sind, ins Spiel bringen. Offensichtlich schließen die USA genau dies aus, waren es doch genau diese Kräfte, nämlich die Gruppe Ahrar Al Sham, die 2013 Raqqa an Daesh übergeben hatten. Joe Dunford, General des United State Marine Corps (USMC), hatte sich am 6.11. mit dem General der türkischen Armee Hulusi Akar getroffen1. In der Folge erklärte er: „Die Koalition und die Türkei werden gemeinsam an dem langfristigen Plan arbeiten, Raqqa einzunehmen, zu halten und zu regieren.“ Die SDF seien keine langfristige Lösung für Raqqa, die liege bei der gemäßigten syrischen Opposition. Der General charakterisierte die Beziehungen zwischen den beiden Ländern als ausgezeichnet. Was diese „langfristige Lösung“ angeht, bleibt er jedoch nebulös. Diesen Aussagen scheinen deshalb eher der Ruhigstellung Erdoğans zu dienen.
Vielen Beobachtern stellt sich die Frage, warum die SDF und damit auch viele Kräfte der YPG und YPJ nun eine Militäroperation auf Raqqa beginnen, ist doch die für Rojava strategisch wichtige Stadt Al Bab weiterhin davon bedroht, durch die Proxies der Türkei, islamistische Banden, die unter dem Decknamen FSA operieren, eingenommen zu werden?
Das taktische Interesse der USA
Es scheint sich zunächst um eine taktische Entscheidung zu handeln Die USA haben sich schützend vor die unter großen Opfern befreite Stadt Manbij gestellt, die mithilfe der Koalition gerade befreit worden war, als die von der Türkei hochgerüsteten islamistischen Banden in Jarabulus einmarschierten und drohten Manbij zurückzuerobern. Natürlich schützen die USA Manbij nicht, weil ihnen das Wohl der Bevölkerung so nahe geht, sondern allein aus strategischem Interesse. Sie wollten die SDF dazu bringen die Offensive auf Raqqa zu starten und die Macht von Daesh, die sie ursprünglich selbst gefördert hatten, nun endgültig zu brechen, und das am besten parallel zu der Befreiung von Mossul. Die USA taktieren auf allen Seiten. Sie schweigen zu den Verbrechen des Erdoğan Regimes im Norden Kurdistans und zu den Bombardierungen der türkischen Armee auf Rojava. Sie unterstützen die Operation der SDF nur, weil sie einen militärischen Sieg in Syrien gegen den IS anstreben und alle ihre Bemühungen, selbst eine Anti-IS-Truppe aufzustellen, bisher gescheitert sind. Als Begründung gegenüber der Türkei, warum sie die SDF als alleinige Kraft bei der Befreiung von Raqqa unterstützen, betonten sie, die SDF würden nun von mehr als 12.000 arabischen KämpferInnen mitgetragen.
Die kurdischen Kräfte sind auf die Koalition angewiesen, wollen sie sich langfristig von der Dauerbedrohung Daesh befreien, da sie selbst waffentechnisch sehr schlecht ausgerüstet sind und über keine Luftstreitkräfte verfügen. Die Vernichtung von Daesh ist in jedem Fall ein strategisches Ziel, egal wo, obwohl die Demokratische Selbstverwaltung es sicher vorgezogen hätte, zuerst die Kantone Kobanî und Afrîn zu verbinden.
Zurecht erklärten verschiedene SprecherInnen der YPG und YPJ, dass sich nach wie vor tausende Frauen als Sklavinnen unter der Herrschaft von Daesh befinden und man ihnen keine Gelegenheit geben dürfe, diese Frauen von Mossul nach Raqqa zu verschleppen. Der gleichzeitige Angriff auf Raqqa und Mossul hat somit durchaus strategische Bedeutung.
Jiyan Sheik Hassan, die Sprecherin der SDF, erklärte, dass die 30.000 teilnehmenden KämpferInnen der SDF etwa zur Hälfte kurdischer und arabischer Herkunft seien. Rund 80% von ihnen stammen aus Raqqa selbst. „Tausende Frauen, die verschleppt wurden, warten auf ihre Befreiung“, so Nesrîn Ebdullah, Sprecherin der YPJ.
Der anstehende Kampf um die Stadt Raqqa – Einige Fakten zur Ausgangslage
Die SDF haben militärisch eine gute Ausgangslage, sie befinden sich nur 30 km nördlich in unmittelbarer Nähe zu Raqqa. Das Gebiet um Raqqa ist nur sehr spärlich besiedelt und es gibt dort keinerlei physische Barrieren, wie etwa Berge. Die Bevölkerung lebt überwiegend am Balikh Fluss, der um diese Jahreszeit weitgehend ausgetrocknet ist. Raqqa selbst liegt auf einem Plateau nördlich des Euphrat und hat vom Norden aus keine natürlichen Verteidigungsbarrieren.
Raqqa ist erst in den letzen Jahrzehnten zu einer großen Stadt geworden. 1970 war es noch sehr klein, hatte nur 37.000 Einwohner, wuchs bis 2011 jedoch auf 260.000 an. Während der frühen Phase des Bürgerkriegs in Syrien galt Raqqa als „Hotel der Revolution“, denn ca. 800.000 Vertriebene aus Aleppo, Homs und Idlip hatten sich hier niedergelassen. 2013 wurde Raqqa von der islamistisch-salafistischen Gruppe Ahrar Al Sham besetzt. Schiitische Heiligtümer, wie die Moschee des Uwais al Qaranî, wurden daraufhin erstört. im August desselben Jahres übergaben sie die Stadt an Daesh, welcher dort eine Schreckensherrschaft errichtete.
Jetzt leben in der Stadt fast ausschließlich sunnitische AraberInnen. Die KurdInnen machten zuvor rund 20% der Bevölkerung in der Stadt aus, flohen allerdings fast vollständig seit der Machtübernahme des IS. Auch flohen die ChristInnen aus Raqqa, die etwa 1% der Bevölkerung ausmachten, ebenso wie viele säkulare AraberInnen. Etwa 5000 Daesh-Kämpfer mit ihren Familien haben die leer stehenden Wohnungen übernommen.
Die Stadt ist sehr zersiedelt, da es keinen Mangel an Land gibt. Der Großteil der Wohneinheiten besteht aus einstöckigen Häusern mit Höfen. Nur der Stadtkern enthält mehrstöckige Bauten, die durch breite Alleen getrennt sind. Daher wird die Stadt schwer zu verteidigen sein. Die großen Straßen ermöglichen es mit gepanzerten Fahrzeugen einzudringen. Daher kann der IS die ZivilistInnen in den Vorstädten kaum als Schutzschilde verwenden, wie zuvor in anderen Städten.
Raqqa einzunehmen ist für die SDF trotzdem keine leichte Aufgabe. Um die Stadt Manbij am 12. August einzunehmen, die kleiner ist als Raqqa, brauchten die SDF insgesamt 73 Tage. Fast hundert KämpferInnen kamen dabei ums Leben. Neben der umkämpften Stadt Mossul ist Raqqa die letzte große Stadt, die Daesh kontrolliert. Daher kann man davon ausgehen, dass sie die Stadt bis zuletzt zu verteidigen versuchen werden.
Die ersten Erfolge der Operation „Zorn des Euphrats“
Nach Informationen der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA konnten die SDF in den ersten zwei Tagen der Operation von Ayn Issa aus, das nordwestlich von Raqqa liegt, 15 km in Richtung Raqqa vordringen und elf Dörfer befreien. Auch südlich von Qenterî konnte das strategisch wichtige Dorf Leqta eingenommen werden, das auf einer Anhöhe liegt. Die Stadt Haisha ist momentan durch die SDF eingekreist. Der Kommandant Abu Al Rim erklärte, man habe zahlreiche Waffen beschlagnahmt, der Widerstand von Daesh sei im Norden weitgehend zusammengebrochen.
Ara News berichtet, Daesh versuche nun die SDF mit Minen, Autobomben und Selbstmordkommandos aufzuhalten. Allein am Montag zerstörten die SDF sechs mit Sprengstoff beladene Autos, bevor diese ihre Ziele erreichen konnten. Die SDF riefen die Zivilbevölkerung auf, vorsichtig zu sein, da Daesh immer wieder versuche, ZivilistInnen als Schutzschilde einzusetzen. Die Zivilbevölkerung solle sich möglichst von den Daesh Hauptquartieren entfernen und die Arbeit der SDF unterstützen.
Aus der Stadt wird laut Ara News berichtet, Daesh habe zahlreiche Internetcafés geschlossen, und private Satelitenschüsseln konfisziert. Niemand darf die Stadt verlassen. Die Wohnungen kurdischer Familien wurden gestürmt und zahlreiche ZivilistInnen wurden verhaftet.
Mit der Operation beginnt auch die Desinformationskampagne
Indes beginnt eine große Desinformationskampagne der Gegner der SDF-Kräfte. Eine prominiente Rolle hierbei spielt u.a. die Homepage „Raqqa is Being Slaughtered Silently” (RBSS), eine Internetplattform, die angeblich unabhängig aus Raqqa berichtet. Diese Seite, die sogar den „International Press Freedom Award“ 2015 erhalten hat, steht tatsächlich Gruppen der FSA nahe und verbreitet schon seit Jahren immer wieder Antipropaganda gegen die YPG und YPJ. Auf Twitter machten sie sich über die angeblich schlechten Arabischkenntnisse der Sprecherin der SDF, Jiyan Sheik Hassan, lustig. Und der deutsche Spiegel greift diese Nichtigkeit sogar auf.
In dem Spiegel-Artikel von Christoph Sydow heißt es weiter: In Mossul „rücken gut ausgebildete Peschmerga, von Iran trainierte und finanzierte schiitische Milizen und die irakische Armee auf die Stadt vor. Gegen dieses Heer von mehr als 50.000 Mann nehmen sich die SDF aus wie eine bunt zusammengewürfelte Truppe, die in einer Art Crashkurs für die Schlacht um Rakka trainiert wurde.“
Diese Behauptung ist angesichts der Tatsache, dass die YPG und YPJ mit meist mit leichten Waffen Städte wie Shaddadi, Kobanî, Hol oder Manbij befreit haben, schlichtweg lächerlich. Sie waren die ersten, die in Kobanê überhaupt bewiesen haben, dass Daesh zu besiegen ist. Und während die Peschmerga 2014 in heilloser Flucht in die Berge geflohen sind, haben gerade einmal 50 YPG Kämpfer Daesh in Şengal gestoppt.
„Wir werden in dieser entscheidenden Schlacht genau wie in Kobanê, Tel Abyad, Hasakah, Al-Hawl, al-Shaddadi und Manbij erfolgreich sein“, erklärte die militärische Leitung der Operation gegenüber Aranews.
Die SDF sind zu der bedeutendsten Befreiungskraft im Norden von Syrien geworden. Den islamistischen Banden, die von der Türkei unterstützt werden, vertrauen inzwischen noch nicht einmal mehr die USA. Erdoğans Träume vom Großosmanischen Reich, dass er zuerst mit der Hilfe von Daesh und nun mit seinen angeblichen FSA Banden durchsetzten will, ist in weite Ferne gerückt. Umso wütender greift er die KurdInnen im Norden an.
Jetzt ist es aus Sicht der fortschrittlichen Kräfte wichtig, auf die UN Druck auszuüben, damit sie die zweifellos in Massen fliehenden Menschen aus Mossul und Raqqa humanitär unterstützt. Der Erfolg der SDF ist mittelfristig nur zu sichern, wenn die befreite Bevölkerung auch versorgt werden kann.
Auch wenn die USA und die Internationale Koalition die Kräfte der Befreiung von Mossul und Raqqa nun unterstützen, kommen sie eigentlich zwei Jahre zu spät. Wie viel Leid hätte verhindert werden können, hätte man die Türkei und ihre Verbündeten Saudi Arabien und Katar schon früher gebremst, als sie islamistische Banden groß werden ließen, die daraufhin diese Städte überrannt haben. Wenn wir heute hören, Saudi Arabien werde sich nun an der Internationalen Koalition beteiligen, muss das wie Hohn in den Ohren der Menschen klingen, die ihre Liebsten verloren haben, die verschleppt und vergewaltigt wurden.
Heute vertreten allein die Kräfte der SDF die Werte, die der Westen nur behauptet zu vertreten: Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Freiheit.
- http://www.defense.gov/News/Article/Article/997373/dunford-turkish-leaders-create-long-term-plan-against-isil-in-raqqa
Civaka Azad, 08. November 2016