von Enzan Munzur, 11. März 2017
Bald wird der pfeifende Wind an dieser Stelle uns nicht mehr davon fegen können. Dann werden uns Bäume und Lehmbauten vor diesem staubigen Wind aus der mesopotamischen Wüste schützen. Diese Bäume und Lehmbauten werden uns den lebensnotwendigen Schutz im Sommer vor der herunterbrennenden Hitze anbieten. Wir werden gesund leben, hier weit weg von den Städten mit ihren giftigen Emissionen.
Das höre ich, als ich im Bus zurück nach Qamişlo sitze, von mehreren Frauen. Es fasst kurz und bündig den Kern von Jinwar zusammen. Jinwar ist das erste ökologische Frauendorf in Rojava, dem überwiegend kurdisch besiedelten Norden Syriens. Dieser hatte sich ab 2012 befreit und die Revolution von Rojava losgetreten, in dem die Frauen eine kritische und unverzichtbare Stellung haben. Die starke Beteiligung der kurdischen Frauen an der Revolution zeigte sich der internationalen Öffentlichkeit beim heldenhaften Widerstand gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Kobanê.
Hunderte Frauen haben sich versammelt, um den Grundstein dieses für sie so wichtigen Projekts zu legen. Trotz widriger Verhältnisse legen sie eine großartige Motivation vor. Bevor die erste Rede gehalten wird, sind die gemeinsamen Rufe, Gesänge und Klänge von Instrumenten zu hören. Es redet zunächst Hediye Yûsîv, die Ko-Vorsitzende des Rates zum Aufbau der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Sie reiht das Projekt in die Bewegung der sich befreienden Frau in Rojava und Nordsyrien ein; als einen wichtigen Schritt zur Selbststärkung, Selbstorganisierung, Selbstverteidigung und schließlich Selbstversorgung.
Alle der Revolution nahestehenden Frauenstrukturen kommen im politische Überbau „Kongreya Star“ (direkte Übersetzung: Sternenkongress) zusammen. Es sind sie Aktivistinnen von Kongreya Star gewesen, die das Projekt lange diskutiert und schließlich angestoßen haben. Dazu haben sie das „Aufbaukomitee Jinwar“ Anfang 2016 ins Leben gerufen. Dies berichtet Sasya Rewan, die in der Diplomatiekommission von Kongreya Star die Diskussion engstes mit verfolgt hat. Sie ist es auch gewesen, die zum Projekt Jinwar auf Englisch und auch Deutsch Texte erstellen ließ.
Es ist ein großes dreieckiges Gelände inmitten eines riesigen flachen Agrargebietes, nur wenige Kilometer von der türkischen Staatsgrenze entfernt. Die vom türkischen Staat gebaute neue Grenzmauer ist zu sehen. Einige hunderte Meter nach Westen ist der Hügel Kepez, wo zwei Tagen vorher Tausende Menschen den Weltfrauentag gefeiert haben. Einiges an Vorarbeit wurde schon geleistet. Nach den Reden bewegen sich die Anwesenden, wenige Dutzend interessierte Männer sind auch darunter, zur anderen Ecke des Dreiecks, wo das erste Haus entstehen soll. Das erste von insgesamt 30 Häusern aus Lehm und Stein. Zwar sind in Rojava noch viele traditionelle Lehmhäuser zu sehen – selbst in denn Städten –, doch werden seit vielen Jahren keine neuen erbaut. Wie in vielen Ländern dieser Welt, stürzen sich die Menschen auf den hässlichen und entfremdenden Beton. Dass die Häuser mit traditioneller Technik gebaut werden sollen, ist eine wichtige Eigenschaft dieses Dorfes, welches einen Beispielcharakter haben soll. Denn nicht umsonst bezeichnet es sich als ökologisch.
Wie soll den sonst das Dorf weiter aufgebaut werden, frage ich Sasya. Die Häuser sollen mit ihrem Vorgarten zum Zentrum des Dorfes schauen, entnehmen wir dem uns ausgehändigten Plan. Dort befindet sich der offene Gemeinschaftsplatz. Drei Typen von Häusern sollen sowohl kleinen als auch größeren Wohneinheiten geeigneten Platz anbieten. Die Gärten sind für den Eigenbedarf an Gemüse vorgesehen. Zwischen den Gärten und dem Gemeinschaftsplatz ist genug Platz für dutzende Bäume. Sasya informiert, dass einige Obstbäume sein könnten. Auf die Frage, wo denn das Wasser herkommen soll, zeigt sie auf einen Fleck am Rande des Geländes, wo ein Brunnen erfolgreich gebohrt wurde. Ohne genug Wasser wäre das ganze Projekt nicht möglich gewesen. Das langsam schwindende Wasser ist ein limitierendes Element in den beiden Kantonen Cizîre und Kobanê sowohl für die Landwirtschaft, als auch die menschliche Besiedlung. Weiter geplant ist ein Gebäude mit Platz für mehrere kleine Geschäfte, die auch für die umliegenden Dörfer gedacht sind. Denn die nächste Stadt Dirbesiye ist mehr als 10 km entfernt. Zu sehen auf dem Plan ist auch ein Gemeinschaftshaus, wo sich die Bewohner des Dorfes treffen, diskutieren und sich bilden können. Es soll auch für Frauen von außerhalb offen stehen. Denn schließlich soll das Dorf als Vorbild und Inspiration dienen.
Oh ja, einige Tiere sollen auch gehalten werden, natürlich in freier Form. Insbesondere für den Eigenbedarf an Milch und Eiern. Zweifellos soll die ganze Wirtschaft des Dorfes als eine Kooperative funktionieren. Dabei hat Kongreya Star so einiges an Erfahrung, denn in den letzten drei Jahren wurden mehrere Dutzende Frauenkooperativen in Rojava aufgebaut.
Die Fundamente jedes Hauses sollen mehr als einen halben Meter in den Grund gehen. Einige der Anwesenden werfen Steine hinein, als Zeichen des offiziellen Baubeginns. Nach einem weiteren Grußwort kommt ein kleiner Transporter mit einer Musikanlage und zwei großen Boxen, daneben ein Generator. Denn Strom aus der Steckdose ist knapp in Rojava, dafür gibt es viel und günstiges Diesel. Deshalb stehen überall leider Dieselgeneratoren!
Die Frauen beginnen zu tanzen. Sie lassen sich aus, als ob sie über den ganzen Winter nicht getanzt hätten, als ob der für ihre Kultur so wichtige Tanz einen Winterschlaf hinter sich hätte. Der Frühling ist da. Die Landschaft wird seit einigen Tagen grün; jeden Tag ein bisschen mehr. Die nächsten Wochen werden sehr schön, da bin ich mir sicher und freue mich darauf.
Auch viele der Männer tanzen mit. Eigentlich ist es so, als ob alle Anwesenden tanzen. Ohne Zuschauer. Vielleicht ist gerade dies das Schöne daran. Sonst stehen ja hunderte oder tausende Menschen herum und beobachten die Tanzenden. Die Tanzenden fühlen sich mehr oder weniger beobachtet, manchen gefällt es, manchen überhaupt nicht.
Schließlich stelle ich danach die große Frage, welche Frauen denn im Dorf leben sollen. Bis dahin hatte ich eigentlich nur beobachtet. Sasya hebt erst mal vor, dass mit 30 Häuser die Kapazität recht begrenz ist. In erster Linie sollen Frauen von Gefallenen im Rahmen der Revolution, von häuslicher oder anderer Gewalt betroffene Frauen, geschiedene und unverheiratete Frauen, die es in manchen Teilen der Gesellschaft immer noch schwer haben, in das Freie Frauendorf Jinwar einziehen. Je nach übrig gebliebener Kapazität können auch interessierte Frauen ohne diese Eigenschaften kommen. Frauen können natürlich ihre minderjährigen Kinder beiden Geschlechts mitbringen. Für diese ist auch eine Schule vorgesehen. Frauen ohne Kinder würden zwangsläufig eine Wohngemeinschaft bilden. Formen des Zusammenlebens können darüber hinaus kombiniert werden.
Jinwar muss sowohl als ein Ort für Frauen unter besonderen Bedingungen als auch ein Ort frei von Männern und Patriarchat gesehen werden. Letzteres muss auch im historischen Kontext verstanden werden, betont eine Frau neben Sasya, deren Namen ich leider nicht mehr im Kopf habe. Seit tausenden Jahren – mit Beginn der Zivilisation von Mesopotamien, also etwa da, wo Jinwar sich befindet – herrschen Männer über Frauen und haben das komplette Leben entsprechend den patriarchalen Grundsätzen ausgerichtet. Die Revolution von Rojava hat angefangen, diese Entwicklung auf eine demokratische Weise zurückzudrehen. Jinwar ist dabei nur ein kleiner der vielen Schritte. Wenn alles insgesamt klappt, sollen in den nächsten Jahren fünf weitere ähnliche Dörfer folgen. Das Aufbaukomitee Jinwar hat sich natürlich weltweit ähnliche Projekte angesehen und nennt zum Beispiel das Frauendorf UMOJI in Südafrika.
Das in Jinwar aufzubauende Leben soll sich auch an die noch bis in unsere Zeit sich rettende kommunale Lebensformen in Kurdistan ausrichten. Nicht so sehr die Technik, sondern solidarische, naturnahe und radikaldemokratische Werte sollen im Vordergrund stehen. Das ist auch mit der Kritik an der Art und Weise der vorbehaltlos eingesetzten Technik in unserer jetzigen Welt zu verstehen. Technik wird von vielen vergöttert. Das Freie Frauendorf Jinwar soll die Träume und den Horizont der Frauen stärken und verbreiten. Unterdrückte Potentiale und Energien in Rojava, und darüber hinaus, sollen freigesetzt werden. Nur wer groß denkt, kann was tatsächlich verändern, schließt Sasya ab.
Mit diesen Sätzen machen wir uns nach einem lehrreichen und bewegenden Tag zurück in die stickige Großstadt von Rojava, Qamişlo. Der Gegensatz in diesem kleinen Stück vom Kapitalismus und Feudalismus befreiten Land könnte kaum größer sein …
Kontakt zum Aufbaukomitee: womensvillage.jinwar@gmail.com
Tel: 00936-997041976