Bei einer Polizeirazzia im ostanatolischen Van wurden 12 kurdische Jugendliche mit Kopfschüssen getötet
Bei einer Polizeirazzia am gestrigen Sonntag gegen angebliche PKK-Mitglieder in der Kleinstadt Edremit bei Van wurden 12 kurdische junge Menschen getötet. Elf waren im Alter von 17-18, während einer der Getöteten etwa 25 Jahre alt war. Die Front des zweistöckigen Gebäudes ist von hunderten Einschüssen schwer beschädigt. Nach Angaben des Gouverneurs wurden bei der Razzia auch ein Polizist getötet und ein weiterer verletzt. Die getöteten Jugendlichen trugen nach Augenzeugenangaben alle Zivilkleidung. Bei der Durchsuchung wurde ein Sturmgewehr von der Polizei gefunden.
Das Bild der Polizeiaktion, wie sie in einem Bericht der prokurdischen Nachrichtenagentur DIHA geschildert wird, deutet auf ein Vorgehen hin, das einer Exekution ähnelt: Elf der Jugendlichen wurden durch Kopfschüsse getötet, nur ein Jugendlicher starb durch einen Bauchschuss, was ein Indiz für eine Auseinandersetzung wäre. Die Angaben werden laut dem genannten Bericht bestätigt durch Mitarbeiter der Leichenhalle des universitätsmedizinischen Zentrums Van als auch durch Aussagen des medizinischen Personals, das den Transport der Getöteten durchführte. Laut DIHA hatte die Razzia nach Angaben von Anwohnern um 05:00 mit dem Beschuss des Gebäudes aus einem Panzerfahrzeug vom Typ Kobra begonnen.
Ein Augenzeuge berichtete gegenüber der Nachrichtenagentur, dass zuerst Sprengkörper in das Haus geschossen worden waren. Es habe keine Erwiderung auf diesen Angriff hin aus dem Haus gegeben und die Polizeikräfte hätten die sofort nach der Explosion aus dem Haus fliehenden Jugendlichen erschossen.
Ein weiteres merkwürdiges Detail sind drei Leichen, die nach Aussagen des medizinischen Personals schon fortgeschrittene Verwesungsmerkmale zeigten, also dem Anschein nach nicht am Sonntag getötet worden zu sein scheinen.
Während die regierungsnahe Presse der Türkei die Darstellung des Gouverneurs und des Generalstabs übernimmt, welche die „erfolgreiche Aktion“ gegen „Terroristen“ loben, werden diese Erklärungen ebenfalls unhinterfragt in deutschen Medien wie der Tagesschau oder NTV wiedergegeben.
Auffällig ist, dass in den Erklärungen des Gouverneurs und des Generalstabs von einem Waffenarsenal die Rede ist. Dies sagt allerdings weniger über Fall aus, als es scheint, denn immer wieder gibt es Hin-und Beweise von Fällen extralegaler Hinrichtung durch türkische Spezialkräfte, bei denen Waffen gezielt neben den Getöteten platziert wurden. Ein prominentes Beispiel für diese Art der Tatort-Präparierung stellt die Ermordung von Ugur Kaymaz (12 Jahre mit 13 Kugeln) und seines Vaters im Jahre 2004 dar. Die Platzierung der Waffen neben den zuvor im Schlafanzug und mit Pantoffeln auf der Straße agierenden Erschossenen wurde durch zahlreiche Augenzeugengespräche und Indizien belegt.
Die Körper der am Sonntag Getöteten werden nun aus angeblichen Sicherheitsgründen nach Malatya verlegt, was bei vielen die Sorge erweckt, dass der Fall nicht wirklich untersucht wird. Die HDP-Abgeordnete von Van, Bedia Özgöce, sprach ebenfalls von Augenzeugenberichten, wonach allen in den Kopf geschossen worden war, dass Raketen auf das Haus geschossen wurden und dass drei Personen, die das Haus verließen keine Waffen getragen hätten.
Der HDP-Abgeordnete Lezgin Botan bewertete die Polizeiaktion als „Massaker“: „Es bestätigt sich, dass es sich dabei um eine Massenhinrichtung handelt. Es stellt sich die Frage, warum, obwohl, die Möglichkeit bestanden hätte, eine Durchsage zu tätigen, um diese Personen lebendig zu ergreifen, dies nicht geschah. Stattdessen wurde mit schweren Waffen das Feuer eröffnet. Eine Quelle aus dem Polizeiapparat hat uns gegenüber geäußert, man habe den Befehl bekommen, etwa zwölf Personen sind an diesem Ort, geht dort hin und tötet sie.’“
Auch in anderen kurdischen Städten in der Türkei starben wieder Zivilisten, Frauen und Männer. Am vergangenen Mittwoch wurden drei kurdische Frauenaktivistinnen und Politikerinnen sowie ein junger Mann in Silopi getötet. Nach Angaben der armenischen Zeitung Agos handelt es sich um eine gezielte Tätung durch Sicherheitskräfte. Die HDP-Abgeordnete für die Region Shirnak, Leyla Birlik, hatte an der Autopsie teilgenommen und erklärte gegenüber BBC Türkce zu dem Fall in Silopi: „Die Gesichter von den drei Freundinnen und dem Freund waren bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Ich gehe davon aus … dass sie verletzt waren und hingerichtet worden sind. ..Die Grausamkeit hier lässt sich nicht in Worte fassen.“
Im belagerten Cizre wurden innerhalb der letzten beiden Tage alleine sechs Zivilpersonen durch Artilleriefeuer und Schüsse von staatlichen Sicherheitskräften getötet. Die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV spricht von mindestens 79 getöteten Zivilistinnen und Zivilisten in den letzten 29 Tagen.
Quelle: http://www.heise.de/tp/news/Tuerkei-Weiter-toedliche-Angriffe-der-Sicherheitskraefte-auf-Kurden-3067937.html