Die Aufhebung der Immunität von 5 Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker HDP steht auf der Agenda der türkischen Boulevard-Presse.
Nach dem am 2. März 1994 in der Türkei die Immunität von 6 Abgeordneten der Demokratie-Partei DEP aufgehoben wurde, scheint es nun den Anschein zu haben, dass 22 Jahre später erneut mit der Aufhebung der Immunität unbequeme Politiker aus dem Weg geräumt werden sollen. Vor 22 Jahren wurden unter der Regierung Tansu Çillers den Abgeordneten Orhan Doğan, Hatip Dicle, Leyla Zana, Ahmet Türk, Sırrı Sakık und Mahmut Alınak die Immunität entzogen. Anschließend wurden sie verhaftet und mussten für Jahre ins Gefängnis. Heute sind es die Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker HDP die zur Zielscheibe werden. Gegen 41 Abgeordnete von insgesamt 59 Abgeordneten der HDP liegen entsprechende Anträge vor. Die aktuelle Kampagne richtet sich aber vor allem gegen den Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, desweiteren gegen Sırrı Süreyya Önder (seiner Zeit Sprecher der Delegation nach Imrali), Ertuğrul Kürkçü (CO-Sprecher der HDK) und Selma Irmak, Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Regionen BDP. Es sind die Abgeordneten, die auf dem letzten Kongress der BDP u.a. auch zum Thema Selbstverwaltung Stellung genommen haben. Die Staatsanwaltschaft tat was sie immer tut, wenn ein Kongress eines der Teile der kurdischen Bewegung stattgefunden hat; sie eröffnet das Ermittlungsverfahren gegen die aktuellen Protagonisten. Auch dieses Mal ist es nicht anders. Im Allgemeinen hat sich die Sache damit dann erst mal getan. Der jeweilige Antrag auf Aufhebung der Immunität wurde dem Stapel der zuvor schon gestellten Anträge hinzugefügt und dürfte dann erst mal langsam einstauben. Dies Mal sieht die Sache anders aus. Viele gehen davon aus, dass es diesmal möglicherweise nicht damit getan ist.
Schon am Freitag hatte der HDP Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş sich zu Spekulationen dieser Art geäußert und erwidert: „Es mag sein, dass du über Staatsanwälte verfügst, wir aber haben das Volk an unserer Seite. So wie unser Volk in Cizre, Nusaybin und Sur Widerstand geleistet hat, aufrecht bleibt, genauso werden auch wir Widerstand zu leisten wissen … Ihr werdet an eurer eigenen Grausamkeit ersticken. Wir sind gemeinsam mit unserem Volk zu allem entschlossen. Der Zukunft willen verfügen wir über die Stärke auf unseren Beinen zu bleiben.“
Der HDP-Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder verdeutlichte in einem Interview gegenüber ANF: „Wir leben hier in einem Land, in dem das Recht, wenn auch dem Anschein nach vorhanden, so doch nicht respektiert und auf Eis gelegt ist. In diesem nicht Vorhandensein des Rechts ist die Aufhebung der Immunität wohl nur das Belangloseste. In einem Land, in dem das Recht auf Leben gebrochen wird, sollte man nicht erwarten, dass wir Jammern über ein Unrecht, das sie Formal versuchen dem Rechtswesen entsprechend zurechtzuschneidern.“
Önder verdeutlichte dies mit den Worten: „Wenn die Ameise Flügel bekommt, ist ihr Ende nah. Von den Politikern in der Vergangenheit, die sich solch faschistischer Praktiken bedienten, bis hin zu denen in unseren Tagen, alle endeten auf dem Müllhaufen der Geschichte … Auch ihnen wird es nicht anders ergehen. Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zu den 1990er und dass ist das Niveau der Organisiertheit des Volkes … Das Gefängnis ist kein Ort der uns Unbekannt ist. Für uns ist das Gefängnis nichts anderes als ein Ort an dem wir kämpfen, genau wie das Parlament so ein Ort ist. Es gibt keinen unter uns der deshalb um seiner selbst Jammern würde. Ich persönlich gehe ja davon aus, dass die Regierung nicht bis zum Ende der Legislaturperiode durchhält. Wir werden es sehen und erleben. Es gibt nicht den Funken von Selbstvertrauen bei der Partei die 50% der Stimmen erhalten hat. Es gibt sogenannte Minister und den sogenannten Ministerpräsidenten, deren Ansehen hat der Staatspräsident demontiert. Das ist nichts, was wirklich von Dauer sein kann. Ihre internen Widersprüche treten langsam zu Tage. Desweiteren ist die Haltung, die sie Syrien und der Region gegenüber eingenommen haben, mit derart unhaltbarer Schuld behaftet, dass sie dafür vom Internationalen Gerichtshof zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Das durchzustehen, dafür fehlt es ihnen an Rückgrat.“
Zu bedenken ist allerdings: Wer heute die Aufhebung der Immunität fordert, ebnet möglicherweise morgen Erdoğan und seinem Präsidialsystem den Weg. Aber faktisch hat Erdoğan es im Juli vergangen Jahres ja bereits durchgedrückt.
ANF, 4./5.03.2016, ISKU