Das türkische Parlament hat über die Verfassungsänderung zur Aufhebung der Immunität abgestimmt. Mit 376 Stimmen gegen 140 hat das Parlament die umstrittene Verfassungsänderung angenommen.
Im Parlament stellt die AKP 317 der Abgeordneten. Da sie den Parlamentspräsidenten stellt, verfügt sie selbst über 316 Stimmen. Mindestens 60 Abgeordnete anderer Parteien haben bei der Abstimmung ihr Bündnis mit der AKP geschlossen. Da die MHP nur über 40 Abgeordnete verfügt, müssen eine erhebliche Anzahl von Abgeordneten der CHP gemeinsame Sache mit der AKP gemacht haben. Das Abstimmungsverhalten der CHP indes kann nicht verwundern. Wer die CHP für eine sozialistische Partei hält irrt. Sie war es nie und wird es nie sein. Sie war und ist ihrem Wesen nach immer eine nationalistische Partei gewesen. Trotz aller rhetorischen Ausfälle wird bei ihrer Haltung, die sie letztlich einnehmen wird, immer ihr Wesen zum Tragen kommen. So ist es dann auch verfehlt davon zu sprechen die Opposition wäre mundtot gemacht worden. Denn bei der CHP und der MHP handelt es sich keines Wegs um Parteien der Opposition. Um Opposition zu sein, müssten sie im Gegensatz oder Widerstand zur herrschenden AKP stehen. Das ist jedoch nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. In allen entscheidenden Fragen kann sich die AKP mehr oder minder immer auf das ungeschriebene Bündnis mit ihnen verlassen. Wenn von einer Opposition gesprochen werden kann dann nur im Hinblick auf die HDP. Und die macht nicht den Eindruck, als ließe sie sich so leicht mundtod machen.
So erklärte die Ko-Vorsitzende der HDP Figen Yüksekdağ: „Das war der letzte Akt des Staatsstreichs. Für ihn mag der letzte Vorhang gefallen sein, für uns hingegen hat der Kampf gerade erst begonnen.“ Der Ko-Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş führte aus, die ihnen zur Verfügung stehenden „Möglichkeiten bis zum Äußersten ausreizen“ zu wollen. Dazu gehört auch eine mögliche Verfassungsklage, mit dem Ziel, die Verfassungskonformität des Gesetzes zur Aufhebung der Immunität prüfen zu lassen. Dafür sucht Demirtaş „52 Mutige“. Denn dafür benötigt er die Unterstützung von ein Fünftel der Abgeordneten im türkischen Parlament. Die HDP verfügt über 59 Abgeordnete. Leyla Zana ist möglicherweise aber nicht Unterschriftsberechtigt, weil ihr die nötige Anerkennung ihres Parlamentseides versagt wird. So wird eine Überprüfung durch das Verfassungsgericht nur möglich sein, wenn 52 Abgeordnete aus einer der anderen Parteien den Vorstoß der HDP unterstützen. Das scheint fraglich, ist aber nicht unmöglich.
Denn 376 Abgeordnete stimmten zwar für die Verfassungsänderung, aber 140 Abgeordnete stimmten auch gegen sie. Die HDP verfügt im türkischen Parlament über 59 Abgeordnete. Faysal Sarıyıldız und Tuba Hezer Öztürk waren zum Zeitpunkt der Abstimmung in Ausland, informierten dort über eklatante Menschenrechtsverletzungen der letzten Tagen und Monate. Auch Leyla Zana, Aycan İrmez, Ali Atakan, Nihat Akdoğan waren bei der Abstimmung nicht anwesend. Bleiben 87 Stimmen von Abgeordenten anderer Partei(en) die sich gegen die Verfassungsänderung gestellt haben. Die kommenden Tage werden zeigen ob und in wie weit sie hinter ihrem Votum stehen.
Des Weiteren ist damit zu rechnen, dass die von der Verfassungsänderung betroffenen Abgeordneten der HDP beim Verfassungsgericht Individualklage einreichen. Und Demirtaş erklärt dann auch, dass niemand damit rechnen solle, dass sie aufgeben und der Weg frei für das von Erdoğan verfolgte Präsidialsystem sei. „Wir werden ihnen das Leben schwer machen. Wir sind wie geröstete ‚Kicherbsen aus Eisen‘. Jedes Mal, wenn er uns zerfleischen will, wird er sich die Zähne an uns ausbeißen“, so Demirtaş. Keiner der HDP-Abgeordneten wird einer Vorladung der Staatsanwaltschaft Folge leisten, sagt Demirtaş und sie würden sich nicht zu Figuren in einem Theater degradieren lassen. Errät der Staatsanwaltschaft, sich schon jetzt auf das Kommende vorzubereiten. Freiwillig kämen sie nicht, man müsse sie schon zwangsweise vorführen oder verhaften. Zweifellos spricht Demirtaş den 6 Millionen Wählern der HDP aus dem Herzen, wenn er sagt: „Wir werden niemals vor dem Palast kapitulieren.“
Dass mit der Abstimmung zur Verfassungsänderung das Parlament sich selbst entmachtet hat, steht ohne Frage fest. Doch das ist nicht erst jetzt eingetreten. Das Parlament ist seit der Wahl vom 7. Juni 2015 entmachtet. Der Unterschied zum 12. September 1980 liegt im Akteur. Damals hieß er Kenan Evren, heute Erdoğan. Es kommt nicht von ungefähr wenn die HDP in dem Zusammenhang von einem „Staatsstreich“ spricht.
Yüksekova haber, 20.05.2016, ISKU