Am 21. Januar 2017 stimmten von 339 von 550 Parlamentsabgeordneten in der großen Nationalversammlung der Türkei (türkisches Parlament) für eine Verfassungsänderung, somit wird spätestens in der dritten Woche des Aprils ein Referendum stattfinden. Die Verfassungsänderung wird als Transformation der 94 Jahre alten Republik von einem parlamentarischen zu einem präsidialem System beschrieben; eine ungenügende Beschreibung für die Einführung einer autokratischen Ein-Mann-Herrschaft.
Der Verfassungsentwurf, der hinter den Kulissen von Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der ultranationalistischen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) verfasst wurde, löst jegliche Kontrolle über das Präsidentenamt auf. Sollte die türkische Bevölkerung die Verfassungsänderung befürworten, wäre der Präsident im Stande das Parlament eigenmächtig aufzulösen, Notstände zu erklären, die Hälfte aller Richter, älteren Beamten, Leiter der Polizei, des Militärs, sowie Vizepräsidenten der Universitäten zu benennen. Erdoğan wäre im Stande bis 2029 zu herrschen. Das Referendum wird abgehalten werden, während 10 Abgeordnete der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP)mit dem Vorwurf des Terrorismus und 76 kurdische Bürgermeister*innen im Gefängnis sitzen. Sämtliche kritischen Medien wurden geschlossen, enteignet oder wurden durch den türkischen Staatsterror zum Schweigen gebracht. Das Referendum wird das Fundament für den Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung sein, sowie für die militärischen Operationen in Syrien und dem Irak. Erdoğan und seine Verbündeten werden weiter versuchen Unterstützer zu gewinnen, indem sie ausländische Mächte des Versuchs bezichtigen, die Türkei durch terroristische Angriffe zu zerbrechen. Die bürgerlichen und politischen Institutionen in der Türkei werden dabei als Geiseln genommen. Währenddessen verschafft die britische Regierung Erdoğan diplomatische und militärische Unterstützung: Großbritannien hat der Türkei seit 2015 Waffenlieferungen im Wert von 330.000.000£ geliefert, darunter Bomben, Raketen, Drohnen, Hubschrauber und Schutzausrüstung. Auch bei dem Treffen zwischen der britischen Premierministerin Theresa May und Erdoğan am 28. Januar zeigte May kein Interesse die massiven Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren, stattdessen vereinbarten beide eine Vertrag über 100.000.000£, damit die englische Firma BAE Systems in Zusammenarbeit mit der türkischen Luftfahrtindustrie ein neues Kampfflugzeug für die Türkei baut. Außerdem diskutierten May und Erdoğan über die zukünftige „Kooperation für Sicherheit und Terrorismusbekämpfung“.
Erdoğan schlüpft in die Rolle eines Faschisten. Nach dem Bombenanschlag auf ein Polizeifahrzeug außerhalb eines Stadions in Istanbul am 11. Dezember 2016, bei dem 38 Menschen getötet wurden, schwor Erdoğan seine Unterstützer ein: „Greift an im Geiste der Mobilmachung … wir müssen unbarmherzig sein, wir führen den zweit der Krieg der Unabhängigkeit. Diejenigen, die sich nicht anschließen, werden als FETO (staatliche Bezeichnung für die Gülen-Bewegung; Anm.d.Ü.) Mitglieder angesehen und in unseren unabhängigen Gerichten verurteilt“. Er ruft die Bevölkerung zur Bespitzelung und Denunziation auf: „Berichtet, was auch immer ihr seht“. Kurdische Geschäfte und Gebäude oppositioneller Strukturen wurden zum Ziel, sie wurden zerstört und in Brandt gesteckt, sowie die unzähligen HDP Zentralen und Büros. Die rassistischen und faschistischen Brandstifter posierten mit dem faschistischen Gruß der Grauen Wölfe vor den Kameras, während die Polizei untätig dabei zusah. Die Grauen Wölfe sind verknüpft mit der MHP, sie bildeten in den 70er und 80er Jahren Exekutionskommandos gegen Linke.
Die Vereinigung der zeitgenössischen Journalisten veröffentlichte ihren vierteljährlichen Medienreport für die Türkei über die vergangenen drei Monate. Laut dem Bericht wurden in diesem Zeitraum 3 Journalisten getötet, 80 verhaftet, 299 inhaftiert, 5 Medienbüros wurden angegriffen, 157 Medienanstalten und 9 Verlage wurden geschlossen, zudem gab es 24 Nachrichtensperren. Das Innenministerium erklärte, dass über 1.600 Menschen wegen Veröffentlichungen in Sozialen Medien verhaftet wurden, gegenüber 10.000 Menschen wird ermittelt. Das ist es, was die britische Regierung unterstützt.
Dennoch sehen sich Erdoğan und der türkische Staat weiterhin dem Widerstand der Kurd*innen und ihrer Unterstützer in der Türkei gegenüber, die Volksverteidigungskräfte (HPG), die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), berichtet, dass im vergangenen Jahr 3.404 türkische Soldaten und Polizisten getötet wurden, die HPG verzeichnete einen Verlust von 585 Guerillas. In den kurdischen Dörfern und Städten unterstützen die Zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) weiterhin die Operationen der Guerilla gegen die türkische Armee.
Hinzu sieht sich Erdoğan einem Kampf gegen die türkische Wirtschaft gegenüber, den er nicht gewinnen kann, diese Droht jene Unterstützung zu beenden, die ihm erlaubte 2002 die Wahlen zu gewinnen. Am 11. Januar 2016 schrieb die Financial Times in ihrem Leitartikel: „Die Türkei scheint näher an einer umfassenden Finanzkrise als je zuvor seit dem die herrschende AKP 2002 die Regierung übernommen hat“. Die türkische Lira ist in den ersten zwei Wochen des Jahres 2017 um 12% gegenüber dem US-Dollar gefallen, bereits in den drei Monaten zuvor verlor sie einen Fünftel ihres Wertes. Erdoğan tobt gegen die Ratingagenturen für Kredite, die die Türkei herabgestuft haben. „Sie wissen, dass die Wirtschaft für ein Ziel manipuliert wird, die Türkei anzugreifen. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Terroristen, der eine Waffe in seiner Hand hat und einem Terroristen, der Dollar oder Euro in seiner Tasche trägt. Beide wollen die Türkei von ihrem Ziel abbringen. Sie nutzen die Finanzen als eine Waffe.“, so Erdoğan. Das Wirtschaftswachstum der Türkei wurde durch ausländische Investitionen angetrieben. Mit dem Fall des Lirakurses, werden die Schulden nicht mehr tragbar. Erdoğan setzt dem die Aufhebung der Zinssätze entgegen, die den Fall der Lira verlangsamen könnten, jedoch werden die erforderlichen Maßnahmen um so härter, je länger der türkische Staat dafür braucht. Die Financial Times formulierte es so: „die Investoren könnten wieder zurückgeholt werden, wenn Herr Erdoğan die Exekutivgewalt sichern kann, der Griff nach der totalen Macht jedoch ist absurd. Er bedroht damit die grundlegenden Institutionen der Türkei“.
Die umfassende Repression in der Türkei droht Erdoğan mehr und mehr von einflussreichen Kreisen der herrschende Klasse zu isolieren, so wurden erst kürzlich „drei Manager der Dogan Holding, Eigentümer der Zeitung Hurriyet, CNN Türkei und der Tumptower in Istanbul verhaftet (Financial Times vom 13. Januar 2017). Dogan Holding ist eine der stärksten Großkonzerne der Türkei. Die Hauptunterstützung erhält Erdoğan jedoch aus den kleinen und mittleren Unternehmen, die nach nationaler und internationaler Ansicht nicht auf die an das internationale Kapital gebundenen Monopole streben. Auch der Verteidigungsminister drohte kürzlich gegenüber der NATO, die Nutzung des Flugstützpunktes Incirlik in der südöstlichen Türkei zu beenden. Erdoğan hüte dich: Stolz kommt vor Zerstörung und Hochmut vor dem Fall.
Stoppt die Waffenlieferungen in die Türkei!
Trevor Rayne – Revolutionary Communist | KQ, 29. Januar 2017, ISKU
Originalartikel: http://www.revolutionarycommunist.org/middle-east/turkey/4560-ei280117