Pressemitteilung AZADÎ e.V. | In Kurdistan führt das AKP-Regime von Staatschef Recep Tayyip Erdoǧan einen brutalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in den Städten im Südosten der Türkei. Seit er und seine AKP bei den Parlamentswahlen im Juni die absolute Mehrheit verlor und die linke prokurdische „Partei der Völker“ (HDP) die 10%-Wahlhürde überspringen und mit 88 Abgeordneten ins Parlament einziehen konnte, zeigt Erdoǧan wieder sein wahres Gesicht. Nachdem die von ihm betriebene und von zahlreichen Angriffen auf Kurd*innen begleitete Neuwahl am 1. November kein besseres Ergebnis erbrachte und die HDP erneut ins Parlament gewählt wurde, kündigte er den Ende 2012 begonnenen Friedensprozess mit der PKK einseitig auf und erklärte ihr den „totalen“ Krieg.
Zum Einsatz kommen Bomben, Panzer, Kampfhubschrauber, Wasserwerfer und Scharfschützen, die auf alles schießen, was sich bewegt. Allein in den Städten Silopi, Cizre und in der Metropole Diyarbakir sind mehr als 10 000 Soldaten gegen die Einwohner*innen eingesetzt. Von August bis jetzt hat es 52 unbegrenzte Ausgangssperren gegeben, seit dem Sommer sind über 100 Zivilist*innen von der Polizei erschossen worden. Zu alledem schweigt die Bundesregierung, schweigt die EU. Sie haben sich auf die Seite des Krieges gestellt, weil das türkische Regime damit beauftragt wurde zu verhindern, dass fliehende Menschen von der Türkei nach Europa gelangen. Sie sind mitverantwortlich zu machen für Tod, Zerstörung und Vertreibung.
Vor diesem dramatischen Hintergrund hat die Bundesanwaltschaft nun Anklage gegen den kurdischen Aktivisten Ahmet Çelik beim Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf erhoben. Sie beschuldigt ihn der Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung im Ausland“ (§ 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 StGB). Als „hauptamtlicher Kader“ habe er von Juni 2013 bis Juni 2014 den PKK-Sektor „Mitte“ (Köln, Düsseldorf, Bonn u.a.) verantwortlich geleitet. Diese Tätigkeit sei in Kenntnis der „Ziele, Programmatik und Methoden“ der PKK ausgeübt worden.
Seine Aufgaben hätten darin bestanden, die Durchführung von Veranstaltungen, Demonstrationen oder Kundgebungen angeordnet und organisiert, Arbeitsberichte angefordert, Kontakt zu seinen Kolleg*innen gepflegt und die Europaführung in Belgien über Aktivitäten in seinem Sektor informiert zu haben. Der 50-Jährige war außerdem mehrere Jahre lang Vorsitzender des Dachverbandes kurdischer Vereine in Deutschland, YEK-KOM (heute NAV-DEM). In dieser Funktion hat er sich insbesondere für die politische Lösung der Kurdenfrage und eine Demokratisierung der Türkei eingesetzt.
Doch werden seine Aktivitäten, die anmuten wie normale Tätigkeiten eines Parteipolitikers, als „terroristische Unterstützungshandlungen“ diffamiert, weil Politik und Justiz die PKK seit 22 Jahren als „kriminelle“ oder „terroristische“ Organisation einstufen.
Im Oktober 2010 hatte der Bundesgerichtshof entschieden, auch die PKK nach dem 2002 eingeführten § 129b strafrechtlich zu verfolgen; wenige Monate später wurden die ersten kurdischen Aktivisten verhaftet und verurteilt. Am 6. September 2011 erteilte das Bundesjustizministerium eine generelle Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung zurückliegender und künftiger „Taten“ der Europaführung der PKK, der Deutschland-Verantwortlichen sowie der Leiter für die Sektoren und Gebiete der PKK, soweit ein Bezug zu Deutschland besteht (§129b As. 1 Satz 2 StGB).
Das befugt die Behörden, gegen die Betroffenen alle geheimdienstliche Observationsmethoden anzuwenden – von einer umfassenden Telefonüberwachung, der Auswertung von SMS bis hin zum Einsatz von IMSI-Catchern.
Ahmet C., der am 18. Juli dieses Jahres verhaftet wurde, stand wegen seiner politischen Aktivitäten schon einmal vor Gericht. Im Juli vor acht Jahren hatte ihn das Landgericht Stuttgart wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten zur Bewährung verurteilt. Was seinerzeit noch als Zuwiderhandlung gegen das vereinsrechtliche Verbot galt (Leitung eines PKK-Sektors), wird heute als „Terrorismus“ angeklagt.
Angesichts des Staatsterrors in der Türkei und der bundesdeutschen wie europäischen Politik des Schweigens, Wegsehens und Nichthörens, fordert AZADÎ alle fortschrittlichen Kräfte auf, diese Strategie zu durchkreuzen und die Stimmen zu erheben gegen eine solche menschenverachtende und interessengeleitete Politik. Sie braucht Widerspruch und Widerstand – in Kurdistan und hier.
AZADÎ fordert die Einstellung aller § 129b-Verfahren, die Freilassung aller politischen kurdischen und türkischen Gefangenen und die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots.
AZADÎ e.V., Rechtshilfefonds für
Kurdinnen und Kurde in Deutschland, Köln
21. Dezember 2015