Kurdische Nachrichten veröffentlichen ein Dokument, das zum Waffengebrauch der türkischen Streitkräfte im Südosten des Landes anhält
Die Angriffe auf kurdische Städte und Stadtviertel eskalieren immer weiter. Seit mehr als 31 Tagen befindet sich Diyarbakir Sur unter Belagerung und Artilleriebeschuss. Die Straßen von Städten wie Nusaybin, Cizre, Sirnak oder Diyarbakir Sur ähneln immer mehr Ruinenlandschaften, wie sie sonst in Syrien vermutet werden. Die Ausgangsperre betrifft mehr als eine Millionen Menschen. Der türkische Menschenrechtsverein IHD berichtete am 22. Dezember folgendes zur Lage:
Unter dem Vorwand, bewaffnete Personen neutralisieren zu wollen, wurde eine umfassende Bestrafungspolitik umgesetzt. Die kurdische Bevölkerung wird in den Gebieten, in denen Ausgangssperren erklärt wurden, massiv, mit Hilfe der Landstreitkräfte der Türkei, von Spezialeinheiten der Polizei und sonstigen Spezialkräfte und Einheiten, die Esadullah [Löwen Allahs] genannt werden und die sich unserer Kenntnis nach aus rassistischen und dschihadistischen paramilitärischen Kräften rekrutieren, angegriffen.
Nach Angaben des IHD verloren zwischen dem 24. Juli und dem 22. Dezember des vergangenen Jahres 197 Zivilpersonen ihr Leben, bzw. wurden umgebracht. Wie viele Mitglieder bewaffneter Milizen oder bewaffnete Jugendliche getötet wurden, sei nicht bekannt. Der Menschenrechtsverein spricht von einem „vollkommen regellosen und gnadenlosen schmutzigen Krieg“. Die Unschuldsvermutung, die Rechte von Beschuldigten, das Verbot von Folter, das uneingeschränkte Recht auf Leben würden außer Kraft gesetzt. Diese Praxis stehe außerhalb des türkischen Rechts. Es fände auch „keinerlei wirksame Untersuchungen“ statt.
Nach einem der Nachrichtenagentur DIHA zugespielten internen Militärdokument der Kommandantur der Landstreitkräfte mit dem Titel: „Ermächtigung des Personals zum Schusswaffengebrauch und Hinweise zur Wachsamkeit“ wurde der massive Schusswaffengebrauch staatlicherseits spätestens ab dem 30. Juli 2015 angeordnet und die Straflosigkeit der Täter nochmals unterstrichen.
Für die Echtheit des Dokuments spricht vieles, nicht zuletzt, dass es bereits Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage ist (siehe weiter unten). Das Dokument mit dem Aktenzeichen: 84933840-3000-350-15 trägt wörtlich übersetzt den Titel: „Das Recht der Soldaten zu schießen und die Wachsamkeit der Einheiten“.
Es wurde augenscheinlich am 30. Juli 2015 von der 3. Panzerbattaillonskommandantur in Cizîr/Şirnex (türk. Cizre/Şırnak) an die 172. gepanzerte Brigade, die Vertretungskommandantur der Landstreitkräfte, übermittelt. In sechs Punkten wird darin der Schusswaffengebrauch gegen die Bevölkerung legitimiert und Straffreiheit in Aussicht gestellt.
Gedroht wird damit, dass Armeeangehörige, die sich beim Waffengebrauch zurückhalten und sei es aus Furcht vor rechtlicher Verfolgung, harte Konsequenzen zu befürchten hätten. Das Überleben des Staates und der Nation sei andernfalls gefährdet und „Verrätern, Terroristen und Feinden des Staates“ würde bei solchem Fehlverhalten ein Gefühl von Stärke vermittelt. Deutlich wird dadurch, wie weit der Einfluss auf die Justiz reicht, den sich die AKP Regierung verschafft hat.
In dem Dokument ist nach einem Bericht der kurdischen ANF-News weiter die Rede davon, dass sämtliche Einheiten anzuweisen sind, bei jeglichem Hinterhalt, bei Sabotage-Akten, bei „Belästigung“ oder bei Angriffen mit scharfer Munition zu antworten. Man befinde sich in einem Ausnahmezustand ist aus dem Dokument herauszulesen:
Der Befehlshabende soll das Personal daran erinnern, dass sich unser Staat in einer schwierigen Phase befindet und sie wachsam sein müssen.
Der Abgeordnete der Oppositionspartei HDP, Ferhat Encu, stellte am 5. Januar eine parlamentarische Anfrage zur Rechtsgrundlage und den Konsequenzen dieser Anweisung. Die Antwort der Regierung darauf bleibt abzuwarten. Wenn man die Folgen dieses Befehls betrachtet, kommt es nicht von ungefähr, dass diese Anordnung durchgehend als „Befehl zum Massaker“ verstanden wird.
Psychologische Kriegsführung mit Leichen
Währenddessen werden die Konsequenzen des Vorgehens der türkischen Armee gegen die Bevölkerung immer deutlicher. Vorwürfe gegen „die Tötungsmaschinen“ sind immer wieder zu lesen, so zum Beispiel in einem offenen Brief, in dem eine Tochter nicht nur den Tod ihrer Mutter beklagt, sondern auch, dass die Angehörigen daran gehindert wurden, die Leiche zu bergen.
Seit dem 23. Dezember soll der tote Körper im Stadtteil Sur auf der Straße liegen und niemand würde Zugang gewährt. Wie aus einem englischsprachigen ANF-Bericht hervorgeht, ist die Pein, die die türkischen Streitkräfte noch mit Leichen ausübt, kein Einzelfall, sondern trägt systematische Züge.
Mittlerweile hat der Menschenrechtsverein IHD den Verfassungsgerichtshof angerufen, damit die Angehörigen die Körper ihrer Verwandten bergen können. Angehörigeninitiativen befinden sich seit vier Tagen im Hungerstreik und erklären, diesen, wenn nötig, in ein Todesfasten umzuwandeln. Es ist auffallend, dass die türkische Armee diese sehr spezielle, beleidigende und schmähende Praxis mit den Körpern Getöteter gezielt einsetzt.
Erinnert sei hier daran, dass die Aufstände und Autonomieerklärungen in den kurdischen Regionen der Türkei in Varto begannen, als türkische Soldaten im August des vergangenen Jahres den Leichnam der Guerillakämpferin Ekin Wan schändeten und öffentlich zur Schau stellten. Anfang Oktober wurde der Zivilist Haci Lokman Birlik durch Spezialeinheiten in Şirnak umgebracht und anschließend am Panzer durch die Stadt geschleift.
Dieses Vorgehen scheint einerseits Teil der psychologischen Kriegsführung zu sein. Andererseits resultiert es aber auch aus dem durch Befehle wie der zitierten Anweisung an das Militär zu Angst und Hass aufgestachelten Sicherheitskräften, denen häufig vorgeworfen wird, dass sie „extrem nationalistisch oder auch islamistisch“ sind (vgl. Der Krieg der Türkei und Europas Schweigen).
Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/47/47057/1.html