Ein neuerlicher Gesetzesvorstoß der AKP

Das Gesetz zur Aufhebung der Immunität wurde Dienstagabend von Staatspräsident Erdoğan unterzeichnet und ist heute in den offiziellen türkischen Medien veröffentlicht worden. 152 Abgeordnete des türkischen Parlaments – im Besonderen die der HDP – sind von diesem Gesetz betroffen. 800 Anträge auf Aufhebung der Immunität, die bis zum 20. Mai dieses Jahres bei den verschiedenen Organen des türkischen Parlaments eingetroffen sind, liegen vor. Sie werden voraussichtlich in den nächsten 15 Tagen an die Gerichte weiter geleitet, wo sie nach Information der Tageszeitung Cumhuriyet von etwa 200 Staatsanwälten bearbeitet werden. Diese entscheiden dann, ob die jeweilige Klage als „nichtig“ einstuft und eine Anklage fallen gelassen wird, oder ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird und die Gerichte sich damit möglicherweise befassen werden.

Aysel Tuğluk, Co-Vizevorsitzende der HDP, rief in einer schriftlichen Erklärung alle Abgeordneten des türkischen Parlaments dazu auf, sich an einer Klage vor dem Verfassungsgericht zu beteiligen und kündigte auch eine Klage der HDP vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an.

Für eine Klage beim türkischen Verfassungsgericht benötigt die HDP die Unterstützung von insgesamt 110 Abgeordneten. Sie selbst verfügt jedoch nur über 59 Sitze, bedarf also der Unterstützung von Abgeordneten der anderen Parteien. Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der CHP, hatte im Vorfeld den Abgeordneten der CHP bereits unmissverständlich gedroht, dass solle ein Parteimitglied der CHP die Klage der HDP unterstützen, dieses mit Ausschluss aus der Partei rechnen müsse.

Die Co-Vorsitzende der HDP, Figen Yüksekdağ, bezeichnete das Gesetz dann auch als „Katastrophe“ für die Türkei und wies auf die Ironie des Schicksals hin, dass just zu dem Zeitpunkt, wo Erdoğan die Immunität der Abgeordneten aufhebt, von der AKP ein Gesetzentwurf an das Parlament eingereicht wird, mit dem „Soldaten die Immunität verliehen werden soll“. Daraufhin erklärte Figen Yüksekdağ: „Die Regierung, die versprach, die Vormundschaft durch das Militärs beenden zu wollen, ist heute mit den militaristischen Strukturen eine Koalition eingegangen.“

Figen Yüksekdağ ging auf den neuerlichen Gesetzesvorstoß der AKP ein. Dieser Entwurf sieht eine Neuregelung für die Verhängung des OHAL (Ausnahmezustand) vor. Dem Neuentwurf zu Folge wäre eine offizielle Ausrufung des OHAL dann nicht mehr notwendig. Zuvor musste, wenn der OHAL für einige Provinzen angewendet werden sollte, dieser verkündet und alle 4 Monate vom Parlament bestätigt werden. Sollte der Gesetzentwurf das Parlament passieren – und daran besteht bei der jetzigen Konstellation kaum ein Zweifel – würde dem Ministerrat diese Aufgabe zufallen; jenem Organ, dass die „Eilbeschlagnahme“ und damit Enteignung ganzer Stadtteile wie Sûr u.ä. eingeführt und beschlossen hat. Dem Gesetzesentwurf zu Folge kann auf Antrag des Innenministers in Zukunft der Ministerrat die türkischen Streitkräfte (TSK) dazu ermächtigen. Umfang und Dauer, Ort, Umfang der nachrichtendienstlichen Aufgaben, Beschränkung der Waffenarten die zum Einsatz gebracht werden dürfen, alle Fragen dieser Art würden dann dem Ministerrat obliegen. Fragen wie Größe der Einheiten, ihre Positionierung u.ä. militärische Details liegen im Ermessen des Generalstabs.

Kommt die Neuregelung durch, würde der Kommandant einer beauftragten Militäreinheit über Befugnisse verfügen, die bisher der Polizei vorbehalten waren. Dem Gouverneur obliege dann lediglich die Koordination zwischen den Militäreinheiten, den Sicherheitskräften im Allgemeinen und den öffentlichen Einrichtungen (übrigens ein Vorgehen, dass so bereits während der Operation in Nisêbîn (Nusaybin) angewandt wurde). Bei Operationen liege, dem Gesetzentwurf entsprechend, das Kommando beim jeweils ranghöchsten Kommandanten. Nachrichtendienstliche Informationen, die der dazu beauftragte Kommandant der Militäreinheit zu benötigen glaubt, sollen von den Diensten bevorzugt behandelt und umgehend weitergeleitet werden. Die beauftragten Militäreinheiten dürften dann auch auf Befehl ihres Kommandanten Razzien durchführen. Sollte ein Aufschub einer Razzia nicht angezeigt sein, darf er eine Razzia durchführen lassen, wenn er sich innerhalb von 24 Stunden diese von einem Richter nachträglich absegnen lässt.

Mit dem Gesetzesvorstoß wäre eine Verfolgung von Straftaten, die innerhalb von Operationen verübt werden, dann gebunden an eine Zustimmung verschiedener Gremien. Richtet sich ein entsprechender Vorwurf gegen die Kommandanten der Streitkräfte oder gegen den Generalstab, muss die Zustimmung des Ministerpräsident eingeholt werden, Betrifft ein entsprechender Vorwurf einen Angehörigen der Streitkräfte, so ist es das Verteidigungsministerium, das darüber bescheidet, bei Jandarma, Personal der Küstenwache oder Polizeikräften das Innenministerium, bei allen anderen Staatsbeamten liegt die Zustimmungsbefugnis bei Gouverneur oder Landrat. Bei Forderung von Entschädigung für Schäden die durch den „Kampf gegen den Terror“ entstanden sind, können diese gerichtlich gegenüber dem Staat eingefordert werden, nicht aber bei dem jeweils Verantwortlichen und dass unabhängig ob ein persönlicher Fehler oder eine Unbotmäßigkeit vorgelegen hat.

Cumhuriyet, ANF, 07/08.06. 2016, ISKU

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