Zwei Mal lebenslänglich, zusätzlich weitere 486 Jahre Haft für Demirtaş gefordert

Zwei Mal lebenslänglich, zusätzlich weitere 486 Jahre Haft für Demirtaş gefordertNordkurdistan/Türkei – Nachdem auf Order des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan die Immunität von Abgeordneten aufgehoben wurde, sind 510 Anträge auf Anklage allein gegen die Abgeordneten der HDP an die Staatsanwaltschaft weiter geleitet worden. Vorladungen zum Verhör sind die allgemeine Folge dessen. Wer in der Türkei einer solchen Ladung nicht Folge leistet, wird zwangsweise vorgeführt. Sollten die Abgeordneten den Vorladungen Folge leisten, würde das in nächster Zeit ihre gesamte Zeit in Anspruch nehmen. Der Arbeit, wofür sie gewählt worden sind,  könnten sie nicht mehr nachkommen.

Allein gegen den Abgeordneten und Co-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker HDP Selahattin Demirtaş liegen 93 Anträge auf Anklage vor. Insgesamt wird gegen ihn zwei Mal lebenslänglich, zusätzlich weitere 486 Jahre Haft gefordert. Die Abgeordneten der HDP haben bereits im Vorfeld erklärt, dass sie den Vorladungen nicht Folge leisten werden. Alles andere liege hingegen nicht in ihrer Hand.

Selahattin Demirtaş, Co-Vorsitzender der HDP, hat sich gegenüber BBC Türkçe zu verschiedenen aktuellen Themen geäußert.

Zur Diskussion über Kontakte zwischen Vertretern der kurdischen Freiheitsbewegung und der Regierung erklärte Demirtaş:  „Zu der Zeit waren in den Verhandlungen nicht wir die direkten Ansprechpartner. Von uns wurde in dem Rahmen nur eine gewisse Unterstützung erwartet und wir als HDP waren auch bereit zu helfen. Alle Treffen fanden dann auch mit meinen Wissen statt.

Es gab vor allem, bevor die Operationen in den Städten Şirnex (Şırnak), Gever (Yüksekova) und Nisêbîn ( Nusaybin) begannen, einen Dialog zwischen der Regierung und Kandil‚ ob eine Lösung zu finden sei. Das war keine Sache in der wir direkt Mittelspersonen waren. Wir hatten weder mit Kandil ein direktes Gespräch noch mit der Regierung. Wir waren lediglich dahingehend behilflich, dass der Verkehr der Gespräche problemlos abgewickelt werden konnte. Bedauerlicher Weise haben sie zu keinem Ergebnis geführt. Wenn man so sagen will, ist die Regierung, wenn auch nur in sehr geringem Maße, auf eine Suche gegangen. Es ist dabei eine Diskussion geführt worden, ob die sich dort befindlichen bewaffneten Personen abgezogen werden und eine Operation dann nicht erfolge. Aber soweit ersichtlich, hat Erdoğan nach den ganzen Sondierungen die Verhandlungen beendet.“

Auf die Möglichkeit neuerlicher  Gespräche angesprochen erklärte Demirtaş: „Zu der Frage hat weder Kandil noch die Regierung uns etwas zukommen lassen. Der Ministerpräsident selbst hat erklärt, die PKK habe ihm die Botschaft gesandt, sie wäre bereit die Waffen zu strecken. Aber weder ich noch die HDP verfügen dazu über irgend eine Information. Abdullah Öcalan ist ein politischer Häftling der in İmralı unter spezieller Isolation steht. Sollte es Gespräche zwischen ihm und Vertretern des Staates geben (Anmerkung des Übersetzers: die türkische Tageszeitung Hürriyet hatte eine entsprechende Meldung einige Tage zuvor lanciert), bedeutet das nicht, dass es politische Gespräche, Verhandlungen oder einem Dialog gibt. Letztendlich halten sie ihn in einem Gefängnis fest, das ihrem Ministerium untersteht. Den Schlüssel dazu hält der Justizminister in Händen. Wann immer es ihm passt kann er die Tür öffnen und mit ihm selbst reden, aber selbst das würde dann noch lange nicht bedeuten, dass erneut Verhandlungen oder ein Dialog zum kurdischen Problem stattfindet. Nur wenn es zu einem Gesprächsverkehr mit politischen Delegationen und als drittes Auge dies in Gegenwart eines Vermittlers geschieht, erst dann kann man davon ausgehen, dass erneut Verhandlungen für eine Lösung aufgenommen wurden. Deshalb ist alles jetzt nur Spekulation.

Abdullah Öcalan hat seit mehr als einem Jahr zu niemanden mehr Kontakt, für die Außenwelt sind  Kontakte zwischen ihm und dem Staat – sollte es solche denn überhaupt geben – ohne Bedeutung.“

In den letzten Tagen waren Äußerungen des Abgeordenten Altan Tan (HDP) vermehrt in der Presse zu lesen. Irretationen, die dadurch hervor gerufen worden sind, stellt Demirtaş dann auch  folgend klar: „Die Haltung unserer Partei gegenüber Gewalt ist unzweifelhaft, wir sind eine Partei die eine demokratische Politik ausübt, die eine Demokratie verteidigt, die pluralistisch, vielsprachig, multikulturell ist und allen Glaubensrichtungen Raum gibt. Jedem, der in unserer Partei Politik betreibt, ist das bekannt und handelt auch dem entsprechend. Natürlich darf unsere Partei auch kritisiert werden. Aber der richtige Ort dafür ist nicht die Presse oder die Medien, sondern die Gremien der Partei. Unsere Partei befindet sich nicht auf dem Scheideweg der Frage zwischen Gewalt oder demokratischer Politik. Sie hat ihren Weg gewählt, die Linie ist klar. Jegliche Äußerung darüber, dass die HDP am Scheideweg stände zeigen nur, dass das was die HDP ist nicht ausreichend begriffen wurde. Unsere Abgeordneten haben bis heute immer und überall ihre Meinung, ihre Gedanken und ihre Kritik sehr mutig vertreten. Aber die HDP vollständig zu negieren oder die Gründe der Existenz der Partei in Frage zu stellen zeigt, dass eigentlich der betreffende Abgeordnete  selbst am Scheideweg steht. Für uns stellt sich nicht die Frage einer Trennung von Altan Tan, aber es ist auch normal, wenn es im Hinblick auf die Vorstellungen und die Phase, in der sich die Türkei befindet, verschiedene Gedanken gibt.“

Zu ergänzen wäre hier, dass Altan Tan selbst erklärte, dass er die HDP nicht verlassen wolle, sondern weiterhin in ihrem Rahmen Politik betreiben wolle.

Demirtaş konkretisiert dann auch die HDP verteidige  Säkularismus und Religionsfreiheit. Selbstverständlich könnten sich in der HDP konservative Kurden, muslimische Kurden, konservative Türken und muslimische Türken  einfinden. Aber eine Festlegung der HDP als muslimische Partei lehnt Demirtaş ab. „Unserer Partei ist keine Partei des politischen Islam, aber als Religionsgruppe ist jeder in ihr vertreten“, erklärte Demirtaş.

Auf Fragen hinsichtlich der TAK antwortete Demirtaş: „Es gibt eigentlich niemanden der die TAK mehr kritisiert, sie mehr warnt und sie mehr auffordert diese Art der Aktionen zu beenden als uns.  Mit Terroraktionen, die Zivilisten zum Ziel haben, haben wir in keinster Weise etwas zu tun. Jegliche Toleranz oder Sympathie durch die HDP ist undenkbar. Wir haben jene Organisation mit dem Namen TAK immer dazu aufgerufen solche Aktionen zu unterlassen und sie aufgefordert, die Drohung in Zukunft weiterhin solche Aktionen durchzuführen und sie noch zu forcieren, zurück zu nehmen.“

Auf die Frage, ob die HDP den Verzicht auf Aktionen der TAK und deren  Auflösung fordere, erklärte  Demirtaş: „Natürlich. Wir gingen nie davon aus, dass eine solche Organisation für irgendjemand irgendeinen Nutzen verspricht. Im Gegenteil, es ist ganz offensichtlich, dass sie nur Schaden verursacht.“ Im Folgenden begrüßte Demirtaş Aufrufe für ein Zusammenkommen demokratischer Kräfte in der Türkei und sagte eine Unterstützung seiner Partei von Bemühungen in diese Richtung zu.

yüksekova haber, ANF, 16./18.06.2016, ISKU

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