Die Bilanz des Putsches: 32.000 Inhaftierte, 70.000 in Gewahrsam, Folter und hundert Tausende, die ihre Arbeit verloren haben …

680x680nc-tutuklamaNach dem missglückten Putschversuch vom 15. Juli dieses Jahres hat die Regierung mit Unterstützung von MHP und CHP den Ausnahmezustand verhängt. Für die Verlängerung des Ausnahmezustands vor einigen Tagen um weitere drei Monate fand das Regime dann nur noch die Unterstützung durch die MHP. In den letzten 2,5 Monaten wurde die Türkei durch das Kabinett per Dekret regiert, sogenannten Verordnungen mit Gesetzeskraft. Die folgenden Zahlen stammen zumeist aus einem Bericht der CHP.

Während die CHP von einer „Willkürherrschaft“ und einer „Hexenjagd“ spricht weist die HDP darauf hin, dass der Ausnahmezustand vor allem eins bedeutet: Aushebelung von Recht und Gesetz, Aussetzung der Verfassung, Pressezensur, Folter und de facto eine Ein Mann Diktatur.

Auffällig ist, dass in letzter Zeit auf offizielle Mitteilungen über die Folgen des Ausnahmezustands weitgehend verzichtet wird, aber Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der CHP, spricht von 1 Million Menschen, die Opfer der restriktiven Maßnahmen des Regimes wurden. Maßnahmen, die er selbst lange Zeit mitgetragen hatte.

Verhaftungen, Suspendierungen, Entlassungen, Beschlagnahme von Besitz und Eigentum, Absetzungen aus Ämtern und Einsetzungen von Treuhändern gehören zum Alltag, dies sind keine Einzelfälle.

130 Journalisten, Schriftsteller und Intellektuelle befinden sich in Untersuchungshaft. Darunter namenhafte Persönlichkeiten wie Ahmet Altan, Mehmet Altan, Mümtazer Türköne und Aslı Erdoğan. 200 Journalisten wurden verhaftet. 2.308 Journalisten verloren ihre Arbeit, 16 TV-Sender, 3 Nachrichtenagenturen, 47 Zeitungen, 16 Magazine, 23 Radiosender, 26 Verlage wurden verboten. Doch die Unterdrückung der Medien ist nicht neu. So sollen seit der Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen Minister der AKP wegen Korruptionsverdacht vom Dezember 2013 und den Protesten vom Gezi (2013) mehr als 7.000 Journalisten sein, die ihre Arbeit verloren haben. Mit den letzten Verboten wird davon ausgegangen, dass insgesamt etwa 10.000 Journalisten ihre Arbeit verloren haben.

Seit dem 15. Juli wurden gegen 3.392 Richter und Staatsanwälte Berufsverbote verhängt, darunter auch gegen 2 Mitglieder des Verfassungsgerichts. 2.500 Richter und Staatsanwälte sollen sich in Haft befinden.

93.000 Beamte wurden suspendiert. 60.000 wurden entlassen, ihnen wurden alle erworbenen Rechte aberkannt. Das bedeutet, dass sie auch keine Ansprüche mehr auf z.B. Pension haben. Aus den Streitkräften wurden 3.534 Personen mittels Dekret entfernt. Im öffentlichen Dienst dauern die Ermittlungen gegen 40.000 Beschäftige an.

Im Rahmen des Ausnahmezustandes wurden gegen 5.247 Akademiker Ermittlungen aufgenommen. Von diesen wurden 4.225 suspendiert, 2.341 wurden per Dekret entlassen. Gegen 1.545 in der Verwaltung Beschäftigte wurden Ermittlungen geführt mit der Folge, das 1.117 entlassen wurden.

35 Einrichtungen zur Gesundheitssorge, 1061 Lehreinrichtungen, 800 Wohnheime, 223 Bildungseinrichtungen, 129 Stiftungen, 1125 Vereine, 15 Universitäten, 19 Gewerkschaften, 4.262 Institutionen und Organisationen wurden verboten, ihr Besitz beschlagnahmt. Allein von der Schließung ihrer Schulen sind 138.000 Schüler und 65.000 Studenten betroffen. 21.000 Lehrern, die an diesen Schulen unterrichtet haben, wurde die Lehrlizenz annulliert.

Aber auch Beamte in den staatlichen Institutionen und Ministerien wurden entlassen und ihnen ihr Beamten Status aberkannt. Betroffen sind eigentliche alle Bereiche. Am spektakulärsten sind wohl die Entlassungen im Bereich Bildung und Gesundheit. Allein im Bereich des Ministeriums für Bildung sind es 28.163 Lehrer und Schulpersonal das entlassen wurde. Wieder per Dekret. Auch in den dem Gesundheitsministerium unterstellten Einrichtungen waren es immer hin 2.018 Entlassungen.

Im Rahmen der Ermittlungsverfahren seit dem 15. Juli haben mindestens 13 direkt oder indirekt Betroffene Suizid begangen. 4 weitere haben Suizid versucht. 5 dieser Suizid und Suizidversuche wurden im der Haft begangen. Bei Fünfen gelten die Todesumstände als zweifelhaft.

Im Anschluss an den Putschversuch sollen Folter und Misshandlung explosionsartig angestiegen sein. Es gibt Meldungen über die Wiedereinführung des Palästinenserhakens, über Schläge, sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung, Entzug von Nahrung und Wasser, Entzug von Schlaf. All die Foltermethoden, die früher angewendet wurden, sollen jetzt zurück sein. Betroffene von Folter und Misshandlung soll die Möglichkeit sich dieses von Ärzten attestieren zu lassen vorenthalten worden sein. Bestimmte Orte in Kayseri und Ankara sollen als Sammellager für Massenverhaftungen und Ingewahrsamnahmen genutzt worden sein. Folterer in Ankara, Istanbul und Amed sollen mit Namen bekannt sein. Trotzdem soll weder die Regierung noch das Justizministerium eingeschritten sein. Untersuchungen der Vorwürfe durch Fachleute der UNO oder der EU würden behindert bzw nicht zu gelassen. Aussagen von Angehörigen und Rechtsanwälten lassen aber erahnen, dass die Folter in der Türkei im Zeitraum der Ingewahrsamnahme wieder als systematisch bezeichnet werden kann.

Die Zeit der Ingewahrsamnahme – zuvor 2 Tage – wurde im Ausnahmezustand (OHAL) auf 30 Tage hochgesetzt. In den ersten 5 Tagen ist das Recht auf Konsultation eines Anwalts ausgehebelt. Grundlegende Rechte von inhaftierten Kranken wurden ausgehebelt. Nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen soll die Zeit bis ein in Gewahrsam genommener einen Anwalt sprechen kann durchschnittlich 10 Tage betragen.

Aber auch politische Strukturen sind betroffen. Seit Verhängung der Ausnahmezustandes wurden insgesamt 30 Bürgermeister durch Einberufung eines Treuhänders ersetzt, 2 darunter in Provinzen. Es dürfte kein Zufall sein, dass fast ausnahmslos Orte mit mehrheitlich kurdischer Bevölkerung von dieser Maßnahme betroffen sind.

Desweiteren wurden 11.301 Lehrer unter dem Verdacht der Unterstützung einer Terrororganisation  entlassen. Und nicht etwa der sogenannten FETÖ sondern von PKK/KCK. 9.843 von ihnen gehörten der mit der KESK verbundenen Gewerkschaft Eğitim-Sen an. Allein in Amed, wo es 20.000 Lehrer gibt, wurden 4.314 Lehrer, in Dersim, wo es insgesamt 900 Lehrer gibt, wurden 504 Lehrer freigestellt. Das sind in Dersim mehr als 50 Prozent.

Aber auch Kulturschaffende sind betroffen. Schauspieler, Regisseure, Musiker, Choreographen finden sich unter den Entlassenen wieder. Das Theaterstück „Nâzım und Brecht“ wurde gar verboten. 44 Akademiker, die die Deklaration der Akademiker für den Frieden unterzeichnet haben, wurden per Dekret entlassen.

Auch Firmen und Konzerne blieben nicht verschont. Unzählige Firmen und Konzerne wurden einem Treuhänder unterstellt. Darunter Boydak Holding (Möbelhersteller), Naksan Holding und die AKFA Holding. Allein in Adana sind es 54 Firmen und Betriebe die einem Treuhänder unterstellt wurden. Andere wie die Koza İpek, Kaynak Holding oder Boydak Holding wurden gar nicht erst einem Treuhänder unterstellt, sie wurden per Dekret direkt beschlagnahmt und ihr Besitz an die TMSF (Staatlicher Anlagefond, der jetzt dem Ministerpräsidenten untersteht) übergeben. Hunderte Gewerbetreibende, die Mitglied in der TUSKON waren, wurden verhaftet, ihre Unternehmen und Investitionen zur Habe genommen.

romanyahaber.com, 17.10.2016, ISKU

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