Türkei: Kein Tag ohne Überfälle auf kurdische Politiker*innen, kein Tag ohne massenhafte Verhaftungen

Türkei: Kein Tag ohne Überfälle auf kurdische Politiker*innen, kein Tag ohne massenhafte VerhaftungenBakur/Nordkurdistan – Die verhafteten Politiker und Politikerinnen gehören den Parteien an, die in der Türkei das kurdische Problem mit politischen Mitteln zu lösen vermögen. Das türkische Regime hingegen setzt alleinig auf eine militärisch-polizeiliche Lösung. Da mag es dann in den Augen des Regimes auch nur konsequent sein jegliche oppositionelle, politische Struktur und Willensäußerungen betreffs der Emanzipation der Kurden bis zum äußersten zu verfolgen, zu zerschlagen und völlig zu vernichten.

Nachdem gestern im türkischen Parlament mit den Stimmen von AKP und MHP die Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere drei Monate abgesegnet wurde, wurden in einer nächtlichen Verhaftungswelle – mit Schwerpunkt in Amed (Diyarbakır) – mindestens 136 Mitglieder der Ortsvorstände der Partei der Demokratischen Regionen DBP und der Demokratischen Partei der Völker HDP – drunter auch Co-Kreisvorsitzende – verhaftet. In Amed blieb fast kein Landkreis verschont. Die Wohnungen der Betroffenen wurden durchsucht, eine Sperre von 5 Tagen verhängt, in denen die Verhafteten keinen Anwalt zu Rate ziehen dürfen. Ein aus rechtsstaatlicher Sicht fragwürdiges Unterfangen.

Aber die Verhaftungswelle ist nicht allein auf Amed beschränkt. Auch aus Wan (Van) gibt es ähnliche Meldungen. In Wan und seinen Landkreisen wurden ebenfalls verschiedene Co-Kreisvorsitzende, Funktionäre und Mitglieder der DBP verhaftet, 70 weitere stehen auf einer Liste zur Fahndung aus und können jederzeit festgenommen werden. Es ist also davon auszugehen, dass sich die Zahl der Verhaftungen in den nächsten Tagen noch erheblich erhöhen wird. Desweiteren gibt es Verhaftungen in Qers (Kars), Colemêrg (Hakkari) und Sêrt (Siirt).

Einer Erklärung der DBP vom 1. Oktober ist zu entnehmen, dass allein im letzten Jahr 2500 Mitglieder und leitende Funktionäre der DBP in Untersuchungshaft genommen wurden. Die Co-Vorsitzende der DBP Sebahat Tuncel sprach am 26. September, nachdem das Regime in Ankara Treuhänder an Stelle gewählter Bürgermeister und Bürgermeisterinnen eingesetzt hatte, von sogenannten Operationslisten. Sie erklärte: „In Diyarbakır warten 800 Dossiers. Das sind Dossiers, die von Mitgliedern des Ordens [Gemeint sind Anhängern von F. Gülen], vorbereitet wurden. Aber wenn es sich um die Kurden handelt spielt es ja bekanntlich keine Rolle, wer die Akte angelegt hat.“

Unter denen die in den letzten 12 Monaten im Untersuchungshaft genommen wurden, befand sich auch der Co-Vorsitzende der DBP Kamuran Yüksek. Kamuran Yüksek ist nach 6-monatiger Untersuchungshaft erst vor einigen Tagen wieder auf freiem Fuß gesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft hat aber bereits Widerspruch gegen seine Freilassung eingelegt.

26 Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die von der DBP gestellt werden, sind von Ankara durch sogenannte Treuhänder ersetzt worden. Eine Praxis, die fast ausschließlich in den kurdischen Regionen der Türkei Anwendung findet. Darüber hinaus werden in den kurdischen Provinzen auf Bürgermeisterämter fast ausschließlich Gouverneure als Treuhänder eingesetzt. Die aktuelle Verhaftungswelle lässt erahnen, dass noch weitere Bürgermeister*innen durch sogenannte Treuhänder ersetzt werden sollen. Aber selbst dort, wo die Bürgermeister*innen noch im Amt sind, stehen sie de facto häufig schon unter Treuhand. Als Beispiel wäre hier das Rathaus von Heweng (Bozova), einem Landkreis von Riha (Urfa), zu nennen. Hier ist zwar offiziell der Co-Bürgermeister noch im Amt, jedoch sind ihm seine Befugnisse entzogen worden. Mit den letzten Kommunalwahlen ist ein neues  Gesetz in Kraft getreten, dass die Landkreise dazu nötigt 40% ihrer Einnahmen dem Hauptrathaus der jeweiligen Provinz zuzuleiten. Doch auch über die restlichen 60% der Einnahmen kann die Bürgermeisterei von Heweng nicht verfügen. Sie ist, sie ist de facto unter Treuhand gestellt, ihre Befugnisse dem örtlichen Landrat überantwortet worden und gezwungen, sich jegliche Tätigkeit von ihm absegnen zu lassen. Ähnlich wie der Gouverneur wird auch der Landrat nicht durch Wahlen legitimiert, sondern wird von Ankara eingesetzt. Wie schon zu Zeiten des Militärputsches von 1980 wird erneut die kurdische Region der Türkei mehr und mehr einer Sonderverwaltung unterworfen.

YENİ ÖZGÜR POLİTİKA/ANF, 12.10.2016, ISKU

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